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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


setzte sich die Frau Pastorin wieder an den von ihrem Gatten erfundenen Webstuhl und half mit arbeiten und verdienen; denn im Laufe der Jahre hatten sich auch verschiedene kleine Esser eingestellt, deren allezeit reger Appetit gestillt werden mußte.

Lee erkannte sehr bald, daß seine Erfindung eine große Zukunft habe, und beschäftigte sich daher unausgesetzt mit ihrer Vervollkommnung. Er gab seine ohnehin wenig einträgliche Pfarrstelle auf, um seine ganze Zeit und Kraft dem neuen Erwerbszweig zu widmen. Die von ihm hergestellte Wirkmaschine war ganz aus Holz gefertigt und ermöglichte es, zwölf Maschen zu schließen und reihenweise aneinander zu fügen, so daß das Gewebe ein einziges langes Stück bildete, welches zusammen genäht werden mußte, wenn es die Strumpfform erhalten sollte – eine freilich noch ziemlich unvollkommene Art der Herstellung, die aber unwiderleglich bewies, daß das Problem gelöst, das Prinzip gefunden war. Als es Lee gelungen war, die Leistungsfähigkeit seiner Maschine zu erhöhen, beschloß er, eine Werkstätte für Wirkwaren in Calverton zu errichten; er baute mehrere neue Stühle, weihte einzelne seiner nächsten Angehörigen in das Geheimniß der Herstellung ein und begann nunmehr die Fabrikation von Strümpfen in größerem Maßstab.

Aber es stellten sich dem strebsamen Manne fast unüberwindliche Hindernisse entgegen. Man belächelte und verspottete den ehemaligen Landpfarrer, weil er die Kanzel mit dem Webstuhl vertauscht hatte, man beschuldigte ihn des Betrugs, weil seine Ware gegenüber den mit der Hand gestrickten Erzeugnissen werthlos sei, und seine Widersacher brachten es endlich dahin, daß niemand gewirkte Strümpfe tragen mochte. Verstimmt und enttäuscht verließ er Calverton und wandte sich nach London, wo er die Unterstützung und Gönnerschaft der Königin Elisabeth zu erlangen hoffte.

Drei Seelen und ein Gedanke.
Zeichnung von A. Brunner.

Allein er hatte sich geirrt; Lord Leicester, der Günstling der Königin, empfahl ihn zwar derselben und Elisabeth nahm auch die Werkstätte, die Lee in Bunhill-Fields errichtet hatte, mit großem Interesse in Augenschein; als aber Lee die Königin um ein ausschließliches Privilegium für seine Erfindung bat, lehnte sie diese Bitte ab mit der Bemerkung, daß sie den vielen Armen, welche sich durch Strümpfestricken ernährten, ihr Brot nicht entziehen dürfe.

Lee wandte sich nun an Lord Hudson, welcher bei der Königin ebenfalls viel galt und für die Erfindung des ehemalige Geistlichen eine so hohe Theilnahme zeigte, daß er seinen eigenen Sohn die Kunst des Strumpfwirkens erlernen ließ. Indessen auch er erhielt von Elisabeth eine abschlägige Antwort, doch ließ sie durchblicken, daß sie eher geneigt sein werde, Lee ein Patent zu ertheilen, wenn er sich entschließen würde, anstatt der wollenen Strümpfe, die jeder ihrer bemittelteren Unterthanen tragen wolle, seidene zu verfertigen. Diesen Wink glaubte der Erfinder nicht unbeachtet lassen zu dürfen; er richtete einen seiner Stühle zur Seidenweberei ein und hatte die Freude, bald darauf der Monarchin als ein Erzeugniß seiner Werkstätte ein Paar feiner, seidener Strümpfe überreichen zu können. Wiederum empfing ihn Elisabeth sehr freundlich, lobte die schöne Arbeit und die große Weichheit und Elasticität der Gewebe und – entließ ihn mit herablassendem Kopfnicken. Nicht besser erging es ihm bei dem Nachfolger der „jungfräulichen Königin“, Jakob I., dem Sohne der unglücklichen Maria Stuart; denn obgleich dieser bei seiner Krönung nicht einmal im Besitz von einem Paar seidener Strümpfe war, sondern sich solche erst von einem seiner Hofherren, dem reichen Herzog von Buckingham, leihen mußte, damit er nicht, wie er sagte, vor den fremden Gesandten wie ein gemeiner Kerl zu erscheinen brauche, fand er sich doch nicht bewogen, das Unternehmen Lees irgendwie zu unterstützen.

Da schien es, als sollte dem Vielgeprüften von Frankreich her Erlösung kommen. Der große Staatsmann und Finanzminister Heinrichs IV., der Herzog von Sully, welcher schon die Seidenkultur und andere Erwerbszweige in seinem Vaterland eingeführt hatte, vernahm von der neuen im Entstehen begriffenen Industrie und forderte William Lee auf, nach Frankreich zu kommen und dieselbe dort einzuführen. Leichten Herzens kehrte der Verkannte dem undankbaren Heimathland den Rücken und siedelte mit seiner Familie und seinen Webstühlen nach Rouen über, wo er auf Vorschlag des Herzogs seine Werkstätte einrichtete. Die Sonne des Glücks schien dem schwergeprüften Manne endlich leuchten zu wollen; Heinrich IV. war ihm sehr gnädig gesinnt, und Sully verschaffte ihm eine Unterstützung aus Staatsmitteln, um ihn in stand zu setzen junge Leute anzulernen und sich fortgesetzt der Verbesserung seiner Wirkmaschinen zu widmen.

Allein kaum war eine heitere, hoffnungsfreudige Zukunft vor Lees Augen aufgestiegen, als sie auch schon wieder im Dunkel versank. Bald nachdem er den Boden Frankreichs betreten hatte, fiel König Heinrich IV. am 14. Mai 1610 durch Mörderhand, Lees Gönner Sully aber wurde als eifriger Calvinist durch Maria von Medici vom Hofe verbannt und dem Protestanten Lee selbst jede Unterstützung entzogen; ja man gab ihm sogar zu verstehen, er möge das Land sobald wie möglich wieder verlassen.

Das war zu viel für den gealterten, an Körper und Geist bereits gebrochenen Mann. Jeder Stütze, jeder Hoffnung beraubt, arm und lebensmüde, sank der geniale Schöpfer und Begründer eines Erwerbszweiges, der Millionen Menschen Arbeit und Verdienst zu gewähren berufen war, noch in demselben Jahre wie sein königlicher Beschützer ins Grab.

Aber sein Werk lebte fort, die Saat, welche er gesät hatte, ging auf und trug herrliche Früchte. In Rouen und später auch in Paris fanden sich Unternehmer, die nach Lees Modellen Wirkstühle bauten und Strumpfwaren herstellen ließen, welche bald ihren Weg ins Ausland fanden, und jetzt sah auch die englische Regierung ein, wie kurzsichtig sie gewesen war, als sie den Erfinder ziehen ließ. Die Anerkennung und der Lohn, welche dem Lebenden versagt geblieben waren, wurden wenigstens den Hinterlassenen zu theil, denen für Ueberlassung der Wirkmaschinen ansehnliche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 653. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_653.jpg&oldid=- (Version vom 13.2.2023)