Seite:Die Gartenlaube (1892) 651.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

und die kleine Hand, die von innen so kräftig zugehalten hatte, gab nach und Fritz stand vor Mamsell Unnütz.

„Also Du?“ sagte er verwundert. „Versteckst Du Dich hier immer noch?“

„O bitte, geh!“ flehte sie verlegen. Aber er ging nicht.

„Ich werde doch sehen, was Du hier oben treibst,“ sagte er, über die Schwelle tretend. Dann verstummte er –

In einer Ecke, just unter dem blinzelnden verschlafenen Dachfenster, dessen altersblindes Glas in allen Regenbogenfarben schillerte, stand ein invalider Lehnstuhl mit mottenzerfressenem Polster vor einem Tische, dessen Platte sämmtliche Geräthe der Aquarellmalerei trug. Eine Menge Lederkästchen höchst wahrscheinlich für Briefmarken bestimmt, lag in einem Körbchen, und ein halbes Dutzend derselben stand fertig gemalt zum Trocknen aufmarschiert wie ein Zug Soldaten. Er nahm eins der Kästchen in die Hand und betrachtete es. Die fliegende Taube, um den Hals am blauen Bändchen einen winzigen Brief tragend, schien soeben erst mit wenigen kecken Strichen hingemalt; recht gut der Natur abgelauscht war die Flügelbewegung des Thierchens und trotz des sehr verbrauchten Musters nett und originell, wenn sich auch eine noch ungeübte Hand verrieth.

Er sah von der Taube zu dem Mädchett hinüber. Sie stand ungeduldig und blaß vor ihm, und ihre Zähne bissen die Unterlippe.

„Hab’ keine Ahnung gehabt, Julia, daß Du malst,“ sprach er, „aber, um Gotteswillen, wie kamst Du auf diese einförmige Beschäftigung? Für wen? Weshalb brütest Du schockweise Tauben aus? Weiß es Tante Riekchen?“

„Niemand! Auch für Dich ist das nicht – bitte, vergiß es!“

„Aber Unnütz, sei doch nicht so unfreundlich,“ bat er. „Ich dächte, Du wüßtest von früher her, daß wir gute Kameraden sind. Habe ich Dich je verrathen? Im Grunde freue ich mich ja herzlich, daß Du auch etwas anderes treibst als Wäschespülen; nur diese“ – er deutete auf die Kästchen – „Massenfabrikation ist mir unverständlich. Sag’, Kind, treibst Du Schacher mit Deiner Liebhaberei? Taschengeld – wie? Und hast Du Unterricht gehabt? Du mußt doch auch anderes gemalt haben? Zeig’ es mir, bitte!“ Und er ergriff eine alte zerlederte Mappe, aus welcher Papier hervorlugte, Papier, wie man es zu Aquarellen benutzt.

„Laß das liegen!“ herrschte sie ihn an mit zornigem Blicke, und ihr Fuß trat den Boden. „Es ist nur Spielerei,“ setzte sie hinzu, „unnütz wie ich selbst. Ich hab’ einmal der Tante solch ein Bildchen zu Weihnacht geschenkt und – bittere Worte dafür bekommen. Unterricht? Wo sollte ich Unterricht nehmen? Ich würde doch nichts lernen. Das da“ – sie deutet verächtlich auf die Lederkästchen – „das, nun das thue ich – weil – für mein ganz besonderes Vergnügen,“ schloß sie, verschränkte die Arme ineinander und glich in diesem Augenblick einer der allerstolzesten Römerinnen, die ihren Sklaven zu entlassen gedenken, aber nicht eben in Gnaden.

„Ich will Dir etwas sagen, Julia,“ sprach er gelassen, „Du malst, um Geld zu verdienen. Aber für wen? Für wen?“

„Für wen sonst als für mich, angenommen Du hättest recht.“

„Ich fürchte, Du – –“

„O bitte, fürchte nichts!“ sagte sie mit funkelnden Augen. „Uebrigens muß ich jetzt der Waschfrau ihr Vesperbrot geben.“

„Schön! Ich gehe mit; verzeihe, daß ich Dich belästigte.“ Es mochte etwas in seiner Stimme liegen, das sie weich machte.

„Sei nicht böse, Fritz,“ bat sie plötzlich und hielt ihm die Rechte hin mit abgewandtem Gesicht.

Er nahm sie mitleidig in seine beiden Hände. „Arme kleine Mamsell Unnütz!“ Es war derselbe innige Ton, mit dem er einst vor Jahren zu dem Kinde gesprochen. „Weine nur nicht, Unnütz, iß lieber!“ Und sie legte die freie Hand über die Augen, um die glühende Röthe zu verbergen.

„Julia!“ sprach er leise und zog sie an sich. Und der schöne dunkle Mädchenkopf lag plötzlich an seiner Brust. „Kind, Du hast’s wohl nicht leicht gehabt all die Jahre her? Ader nun bin ich da, und Du mußt mir alles sagen, hörst Du, alles was Dich drückt. Ich will nicht, daß Du traurig bist in Deinen schönsten Frühlingstagen. Du hast nun wieder einen wie damals, eh’ ich nach Göttingen ging, einem dem Du alles sagen und klagen kannst.“

Sie antwortete nicht, sie litt es nur, daß er ihr das Haar streichelte. Da ward auch er stumm und ließ ihren Kopf ruhen an seiner Brust. Und es war so still hier oben, so totenstill, nur der Holzwurm tickte in dem alten Balkenwerk und Fritz Roettgers Herz klopfte so laut, daß er meinte, man müsse das Pochen hören. Langsam hob er dann das Gesicht des Mädchens und sah in die schönen, halb verschleierten heißen Augen. Und zum zweiten Male heute küßte er ihren Mund, aber leidenschaftlicher als vorhin und länger, und diesmal sträubte sie sich nicht. Ihre Arme legten sich weich und leise um seinen Hals, und ein Ton wie ein erstickter Jubelschrei zitterte durch den niedrigen Raum.

Im nächsten Augenblick schon war sie allein; sie kniete vor den alten Lehnstnhl, als sei er ein Dankaltar, die Hände gefaltet, das schöne stolze Gesicht in heller Entzückung nach oben gerichtet. ,O Gott,“ sagte sie leidenschaftlich, „ich danke Dir, nun ist kein Schatten mehr für mich in der Welt.“

Und druntett stand er und sah etwas niedergeschlagen aus. „Dummheiten!“ murmelte er, „alter Schafskopf, der ich bin! – Aber zum Henker, ich darf doch schließlich meine sogenannte Cousine küssen? Hm – wollte doch, es wär’ unterblieben. Na, er bildet sich hoffentlich nichts ein, der Unnütz – großer Gott, das fehlte noch!“

„Fritz!“ rief die schrille Stimme der Mutter, „ich wär’ soweit – wir wollen zu Krautners gehen.“

Er seufzte und nahm den Hut vom Nagel. „Armer kleiner Unnütz!“ murmelte er noch einmal. – –

Tante Riekchen kam von Doktors gegen Abend zurück. Sie schlich förmlich: der Sorgendruck, der auf ihr lag, lähmte auch ihren Gang. Dabei war die ganze Luft wie mit Goldstaub durchsetzt, und die alten Giebelhäuser des Städtchens, die Brunnen und die Bäume der Gärten erschienen purpurn überhaucht von der untergehenden Sonne. Sie sah es nicht, sie hatte für nichts mehr Sinn, als dafür, wie sie Geld herbeischaffen könnte. Plötzlich, dicht vor ihr, kam aus der kleinen rundbogigen Thür eines schmalen Häuschens eine Mädchengestalt und schritt rasch vor ihr her. Welch ein elastischer Gang und welch biegsam schlanke Figur, trotz des schlecht gearbeiteten Kleides! Was hatte sie nur, die Julia? Ihre Schritte tanzten förmlich und all die Leute sahen sich nach ihr um und gafften ihr unter den runden Strohhut.

„Julchen!“ rief die alte Dame, da wandte sich das Mädchen rasch um, und Fräulein Riekchen konnte in ein junges Menschenantlitz blicken, aus dessen schönen Zügen ein inneres großes Glück hervorleuchtete. Die bedrückte Frau verstand es nicht, sie sah nur diesen Schnuheitszauber, und der kränkte sie noch immer in der Erinnerung an vergangene Zeiten. „Geh doch anständig!“ tadelte sie. Das Mädchen richtete den Schritt nach ihr. „Wo warst Du, Julia?“

„Bei der Schneiderin, wie Du bestimmtest, Tante. Denk’ Dir, sie sagt, es könne ein ganz lieb’ Kleidchen werden, wenn ich noch ein paar rothe Schleifen dazu hätt’.“

Die Tante antwortete nicht. „Komm heute abend zu mir in die Schlafstube, Du sollst etwas berechnen!“ erwiderte sie endlich, und dann gingen sie zusammen weiter.

Vor der Hofthür trafen die von „unten“ und von „oben“ zusammen. „Nun,“ fragte Frau Rath ihre Schwester, „hast Du Geld bekommen? Ich wett’, der Doktor hat Dir’s noch einmal gegeben – gelt? Na, hast eben Glück, Riekchen.“

Oben saßen dann Tante und Nichte bis spät in den Maiabend hinein und rechneten. Vor den Augen des jungen Mädchens verwirrten sich die Zahlen, sie brachte alles falsch heraus, und Tante Riekchen ward ungeduldig und von Minute zu Minute blasser.

„Dreitausend Mark Zinsen zu bezahlen, und nur viertausend fünfhundert Einkommen,“ murmelte sie; „tausend davon bekommt Frieder als Zulage – –“ Und plötzlich löschte sie die Lampe aus und legte sich in den Sessel zurück.

Ein Weilchen schien es ganz dunkel, dann aber kam das Mondlicht zur Geltung, das durch die Fenster quoll, und von draußen klang das Schlagen der Nachtigallen und fernes Singen in das Stübchen. „Julia!“ Schrill schallte es in diesen Frieden.

„Tante?“

„Es wird mir schwer, Dir’s zu sagen, aber – ich kann Dich nicht behalten – Du mußt fort – Dir allein helfen. Es langt kaum noch für mich.“

Keine Antwort.

„Julia, hörst Du nicht? Komm her!“

Da kam sie herüber und die alte Dame sah in ein starres Antlitz. „Hast Du mich verstanden, Kind?“

„Nein!“ Es war wie ein Hauch.

„Nun, so will ich deutlicher sprechen. Frieder hat mehr verbraucht, als ich hätt’ geben können. – Es ist jetzt alles so anders

in der Welt – ich kenne mich auch nicht aus in dem Offiziersstand

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 651. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_651.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2022)