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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

herab; ihr war Unfriede fürchterlich. Die Räthin, die just nach oben wollte, traf mit ihr auf dem Absatz der breiten Treppe zusammen und begann höchst erregt auf sie einzusprechen, daß sie es nun nachgerade satt habe, sich mit dem alten groben – – da flog die Hausthür auf und die beiden Knaben stürmten herein. Der Frau Rath blieb das Wort auf den Lippen sitzen, denn die Thür schlug donnernd wieder zu, in der nächsten Sekunde waren die Schulranzen der Jungen je in eine Ecke geschleudert und die beiden aufeinander losgefahren wie die Kampfhähne.

So rasch geschah es, daß die beiden Frauen kaum wußten, wie die erbitterten Kämpfer, die sich auf der Diele balgten und in stummer Wuth aufeinander einhieben, dorthin gekommen waren. Es herrschte einige Sekunden lang eine athemlose Stille, dann ein dumpfer Fall und die heiseren Worte des Fritz. „So, Du römischer Hund, da hast Du Deinen Lohn!“ Und Frieder lag bleich auf dem Boden, das Gesicht entstellt vor Wuth und Scham. Der andere sprang in die Ecke, ergriff den Ranzen und wollte eben in den Garten, da stand Tante Riekchen vor ihm.

„Was fällt Dir ein, Du abscheulicher Junge!" stieß sie hervor, „wie kannst Du Deine groben Fäuste gegen den Schwächeren gebrauchen! Geh’ – ich will von Dir nichts mehr wissen – nie!“

Der kräftige Junge sah sie ruhig an; noch ging sein Athem schnell, noch war er erregt. aber er vergaß keinen Augenblick, mit wem er sprach. „Du weißt ja den Grund nicht, Tante,“ sagte er, machte eine Schwenkung um sie herum und verschwand durch die Hinierthür.

Frau Rath aber gebärdete sich schier wie eine Heldenmutter. „Na, ich gönn’s dem Buben, verdient hat er schon längst einen Rücken voll!“ erklärte sie gelassen.

„Wie?“ rief jetzt Riekchen zitternd, „Du nimmst Deinen unartigen Jungen noch in Schutz – schämst Du Dich denn nicht? Vergißt Du denn ganz, wie lieb ich den Fritz immer hatte, und daß ich doch etwas Rücksicht erwarten könnte für den armen vaterlosen Buben? Strafen sollst Du Deinen Sohn, empfindlich strafen – ich bitte Dich darum.“

„Fällt mir gar nicht ein!“ erwiderte die Schwester, „strafe Du doch den Deinigen, der Fritz hat sicher keine Schuld.“

„Komm!“ wandte sich Tante Riekchen an Frieder, der sich eben aufrichtete und seinen zerrissenen Jackenärmel betrachtete, „komm! Wenn sich andere Jungen gewöhnlich betragen, so hast Du noch nicht das Recht, es ebenfalls zu thun. Hinauf in Dein Zimmer; ich bin ernstlich bös!“

So stiegen die Zwei die Treppe hinauf, und Frau Rath holte sich ihren Jungen aus dem Garten, und unten und oben fanden Verhöre statt, aber an beiden Stellen erfolglos.

„Mutter,“ erklärte Fritz, „frage nicht weiter; er ist ein ganz schlechter Bursche, der Frieder.“

Frieder konnte eine gewisse Verlegenheit nur schlecht verstecken hinter falscher Großmuth. „Laß doch nur, Tante, er hat es ja nicht so bös gemeint.“

Und Tante Riekchen ging, äußerlich noch unversöhnt, innerlich ganz gerührt, in ihre Wohnstube. „Er ist doch von vornehmer Denkungsart,“ sagte sie, „und Jungens prügeln sich wohl mal. Er will den Grund nicht verrathen, das ist nobel.“ – Nichtsdestoweniger hatte sie ihm angekündigt, er werde heute zur Strafe allein auf seiner Stube speisen und dieselbe nicht früher verlassen, als bis er komme, um Verzeihung zu bitten. Sie fühlte, sie müsse einmal mit Strenge auftreten.

Die Grimasse ihres Pflegesohnes, als sie den Rücken wandte, sah sie nicht. Friedrich Adami ballte die Fäuste, nachdem sie sich entfernt hatte. War es nicht zu albern von ihr, ihn hier festzusetzen? Pah! Er brauchte ja nicht zu gehorchen, er ging einfach in den Garten; dem derben Bengel dort unten mit seinen groben Fäusten, dem würde er’s schon noch heimzahlen. Was ging den das an, wenn das weiße Kaninchen in seinen Verschlag lief, statt in dem des dummen Kerls zu bleiben, und wie kam der dazu, gleich nach diesem Zanke so handgreiflich Partei zu nehmen für seine Tante? Er, Friedrich Adami, konnte sie nennen, wie es ihm beliebte. Freilich – wenn der Fritz klatschte, daß er seine Pflegemutter ein „altes Gerümpel“ geheißen hatte, mit der er machen könne, was er wolle, die Alte habe nun einmal einen Narren an ihm gefressen – dann war’s doch höchst eklig.

Er war schon im Begriff, nach dem Garten zu entwischen, als sich die Thür aufthat und die alte Dora mit dem Essen erschien. „Aber Frieder,“ sagte sie, „was machst Du für Sachen? Aergerst Deine gute Tante! Bist gar nicht werth, daß sie Dich so lieb hat. Da, schau’ her, eigenhändig hat sie Dir das Quittenmus aus der Vorrathskammer geholt.“

Um den Mund des hübschen Buben zuckte ein spöttisches Lächeln. Zur Strafe schickte sie ihm seine Lieblingsnäscherei! Er hatte schon recht mit dem, was er gesagt. Er gab den Vorsatz, nach dem Garten zu gehen, auf und setzte sich mit dem größten Appetit zu Tisch.

„Bitt’ es ihr nachher ab,“ mahnte die Alte.

„Ich hab’ nichts abzubitten!“ antwortete er.

„Dann kannst Du aber nicht hinunter.“

„Werd’ schon können, wenn ich will – ich will aber gar nicht!“

So ward es Abend. Die Gewitterwolken hatten sich vertheilt, es war kühler geworden draußen. Friedrich Adami wartete auf seine Tante, die Tante wartete auf ihn, keiner wollte nachgeben. Der Knabe stand am Fenster; drunten ging der Fritz in den Kaninchenstall, er pfiff ganz vergnügt vor sich hin; der hatte es besser. Nun nahm er wahrscheinlich sein Eigenthum, das hübsche weiße Kaninchen, zurück und machte die Thür des Verschlages doppelt fest, damit es nicht wieder entwischen konnte. Ueber den Hof strich ein feuchter erfrischender Hauch, er kam wohl vom Rheine herauf; der Junge sog ihn mit vollem Athem ein. Just heute zog es ihn so mächtig wie nie an den Strom hinunter, um seine schmerzenden Glieder hineinzutauchen in die grünliche klare Fluth.

Je nun, warum sollte er der „Alten“ den Gefallen nicht thun und um Verzeihung bitten? Er nahm seinen Strohhut und schlich in die Wohnstube hinüber.

Die Tante war nicht dort, aber dafür stand mitten in dem rosigen Lichte der untergehenden Sonne, das die tiefe Fensternische magisch erfüllte, sein Schwesterchen auf einem Stuhl vor dem Nähtisch der Tante. Mit einem Knie stützte sich das zierliche Geschöpf in dem verwachsenen rosa Kattunkleidchen auf diesen Tisch; beide Aermchen hatte sie gegen die Wand gestemmt, so daß sie die kleine Konsole, welche die Gipsbüste ihres Vaters trug, fast umarmte. Das dunkle Köpfchen war vorgeneigt, und ihr zum Kuß gespitzter rother Mund berührte zärtlich die lockige Stirn des leblosen Gesichtes. Es war eine scheue süße Innigkeit in dem Gebahren der Kleinen, die wohl jeden gerührt hätte.

Von Brüdern verlangt man im allgemeinen nicht, noch dazu von Brüdern in den Flegeljahren, daß sie ihre Schwestern bewundern sollen; aber daß dieser brüderliche Held seine Hand dazu benutzte, das Gesicht des kleinen Mädchens so heftig gegen den Gipskopf zu stoßen, daß derselbe durch den Zusammenprall von der Konsole fiel und auf der Diele mit dumpfem Schlag in Trümmer sprang, das war denn doch nicht einmal mit brüderlicher Unempfindlichkeit zu entschuldigen.

„Dummes Ding!“ rief er, selbst erschreckt, „was hast Du da nun angerichtet!“

Und in diesem Augenblick kam Tante Riekchen. Die Kleine stand vor Schreck noch unbeweglich auf dem Stuhle, das tief erblaßte Kinderantlitz hatte etwas unheimlich Starres; und die Frau, welche die Güte selbst sein konnte, ward beim Anblick ihres zertrümmerten Kleinods hart bis zur Grausamkeit.

„Du entsetzliches, boshaftes Kind!“ rief sie, „bist Du nur gekommen, um mir Unglück zu bringen? Wollte Gott, ich hätte Dich nie gesehen!“ Sie riß die Zitternde vom Stuhle und schleuderte sie vorwärts, daß der kleine Körper an der Ausgangsthür wie ohnmächtig zusammenbrach.

Dora hob sie auf. Stumm, bebend lag das Mädchen in ihren Armen, und von der kleinen schön geschweiften Oberlippe rieselte ein Blutstropfen.

„Julchen, liebes Julchen!“ flehte die Alte unter Thränen, nachdem sie das Kind auf sein Bettchen gelegt und ihm das Blut abgewaschen hatte, „was hast Du denn gethan? Um Gotteswillen, sag mir’s doch!“

Aber kein Wort der Anklage kam über die schmerzverzogenen Lippen.

Tante Riekchen wollte Julchen nicht sehen, hatte sie gesagt, und hungrig zu Bett gehen sollte sie auch! Und so saß die kleine, während drunten im Garten unter dem Nußbaum der wieder zu Gnaden angenommene Bruder an der Seite der Tante speiste, oben in der tiefen Dämmerung am Fenster, die Augen auf den Strom geheftet, mit einem wehen, über ihre Jahre hinaus wehen Zug im Gesicht, und horchte auf die Nachtigall, die drunten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_646.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2022)