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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


mittag. Jubelnd hatte der Bub’ seine Schätze der Schwester gezeigt und das Mädchen hatte sie mit großen begehrlichen Augen angesehen, ohne sich zu rühren. Und da hatte ihr Riekchen eine Puppe hingehalten, eine sehr häßliche gewöhnliche Puppe, die Käthchen in aller Eile um ein paar Groschen aus dem nächsten Laden geholt, weil man so gar nicht an Mädchenspielzeug gedacht. Die Kleine aber griff nicht zu; sie streckte wie heute früh die Hände auf den Rücken und blickte schier verächtlich von der bunten Karikatur auf das Hänneschentheater, mit dem der Junge sich zu schaffen machte. Da nahm Riekchen ungeduldig die Puppe und drückte sie dem kleinen trotzigen Dinge gewaltsam in die Arme – und nun geschah etwas Unerwartetes. Die Hände des Kindes ergriffen die bunte Bäuerin und schmetterten sie so gewaltsam zur Erde, daß der Porzellankopf in tausend Scherben zersplitterte. Ein sprühender Blick traf die erschrockene Geberin, und das winzige Persönchen wandte ihr mit einer ganz unnachahmlich stolzen Gebärde den Rücken. Riekchen aber quoll ein unbekanntes schreckliches Gefühl heiß zum Herzen; sie faßte das Kind und führte es heftig in das Stübchen, da es schlafen sollte, und dort – wie kam es nur, daß sie so zornig werden konnte? – dort schlug sie die braunen unartigen Händchen, bis ein lautes Schreien begann, ein thränenloses entsetzliches Schreien, das ihr die Ohren gellen machte. Erst Dora hatte die kleine Gestrafte zu beruhigen vermocht.

Sie war zu hart gewesen, Riekchen gestand es sich ehrlich ein und war dennoch nicht imstande, die Hand auszustrecken, um liebkosend dieses schmale Kinderantlitz zu berühren. Und plötzlich sank sie am Bette nieder und klammerte sich weinend an die Gitterstäbchen. „Herr Gott,“ schluchzte sie, „welch eine Last, welch eine schwere Last hast Du mir auferlegt! Hilf mir – mein Herz wendet sich ab von diesem Kinde, ich kenne mich selbst nicht mehr!“

Und sie weinte, bis die Alte erwachte. „Ja, ja, sie ist ’ne Last, die Kleine da, eine schwere Last, Fräulein – aber, sehen Sie, da hilft nur Güte und Geduld.“

Und in diesem Augenblick sprach diese schwere kleine Last im Traume: „Mama mia, mia carissima Mama!“ Es klang so süß, so weich, wie wenn ein Vögelchen im Schlafe zwitschert.

Riekchen starrte in das Kindergesicht – es lächelte; wie entzückeud sah es aus!

Ja, wenn sie auch so gelächelt hatte – und wieder stürzten ihr die Thränen aus den Augen, und sie ging rasch hinaus, denn jetzt konnte sie das Kind erst recht nicht sehen.




Eine schwere Last – so dünkte allen dieses federleichte, kleine, seltsame Mädchen, das so unerwünscht und unerwartet ins Haus geschneit war, keinem schwerer als der Pflegemutter, am leichtesten noch der alten Dora. Vor der großen Gestalt der Tante flüchtete das Kind blitzgeschwind in irgend einen Winkel wie jene zierlichen Eidechsen, die sich auf einem Trümmerhaufen im heimathlichen Rom sonnen. Nichts brachte es aus seiner Gleichgültigkeit, Güte nicht und nicht die Strenge. Die Frau Räthin war geradezu entsetzt über das zigeunerhafte Geschöpf, und sie malte es ihren Freundinnen in so grellen Farben, daß diese sich wunderten, eines Tages an der Hand der alten Dora ein ganz menschlich aussehendes Wesen nach der Schule trippeln zu sehen; sie hatten gemeint, es sei mohrenschwarz und habe Wollhaar.

Wunderbarerweise hielt die Kleine in der Klasse aus, ja sie war beinahe schwer zu bewegen, nach Hause zu gehen, obgleich sie in der Schule meist starr auf ihrem Platze saß, die Augen von dem Lehrer nicht verwandte und von den Mitschülerinnen keine Notiz nahm.

Dora hauste mit ihr im kleinen Stübchen, in welchem nur grad’ Raum für die zwei Lager, ein Nähtischchen und den Schmollwinkel des Kindes war. Die Alte allein im ganzen Hause verstand es, mit dem „Julchen“ umzugehen. Freilich hatte die Kleine stets harte Ohren, wenn sie „Julchen“ genannt wurde; sie pflegte bei diesem Anruf regungslos an ihrem Platze zu verharren. Entschloß sich aber die Alte, so schmelzend es ihre rauhe Stimme fertig brachte, „Julia“ zu rufen, so gehorchte das Kind sofort.

Am wohlsten schien sich Julia zu fühlen in diesem Winkel, und wenn im Nebenzimmer, Tantes Putzstube, die Töne einer Violine erklangen, dann flog sogar ein Lächeln über das ernste kleine Antlitz und die Hände preßten sich gegeneinander wie im höchsten Entzücken während sie regungslos an der Thür lauschte.

„Du hast ihn wohl gern, den Fritz?“ forschte Dora, wenn sich das Mädchen das feine Näschen an der Fensterscheibe platt drückte und mit ernsten Augen das Spiel der wilden Jungen im Garten verfolgte. Aber eine Antwort bekam sie nicht.

„Hast Du Deinen Bruder recht lieb?“ fragte die Alte weiter.

„Nicht so sehr!“ autwortete das seltsame Kind.

„Nun, aufrichtig bist Du wenigstens, beinahe so wie die Frau Räthin – daß Gott erbarm’!“ Und Dora dachte daran, daß besagte Dame von dem fremden Eindringling nie anders sprach als von „Mamsell Unnütz“.

Zuletzt gebrauchten auch die Dienstboten diesen Namen und die beiden Jungen, die sich mächtig angefreundet hatten. Frau Räthin ließ diese Freuttdschaft zu, denn Riekchen fand ja in ihrer Affenliebe für den blonden Friedrich nicht Maß noch Ziel, war aber doch so gerecht gegen ihren Neffen, daß sie ihn vollauf an allem Guten theilnehmen ließ, das sie dem Pflegesohn gewährte.

Friedrich Adami, oder wie Tante Riekchen ihn nannte, der „Frieder“, war allmählich Herr im Hause geworden, nach ihm richtete sich alles; bedurfte es doch nur eines Blickes der blauen Knabenaugen in die der Tante, und sein Wille geschah. Er verlebte eine Jugendzeit wie im Himmel. Riekchen brachte es nicht einmal fertig, ihn zu tadeln für Unarten, für schlechte Schulzeugnisse, für Klagen seitens der Lehrer, sie fand stets eine Entschuldigung für ihn, und das Aeußerste war, daß sie ihn in ihr Zimmer kommen ließ, ihn mit Thränen im Auge bat: „Frieder, versprich mir nur, daß das nie wieder geschieht!“ Was er dann auch mit feurigster Bereitwilligkeit gelobte, um es in Zeit von einer halben StUnde zu vergessen.

Im ganzen Städtchen war der Frieder bekannt als einer der ärgsten Rangen. Der Doktor schüttelte betrübt den Kopf, wenn er abends aus dem Gasthaus „Zur Traube“ heimkehrte, wo auch die Lehrer des Gymnasiums ihren Schoppen tranken; und oft sagte er zu seiner Frau: „Es ist eben Weibererziehung, was soll daraus werden!“

„Du müßtest doch als Vormund eingreifen,“ antwortete diese dann ärgerlich. Er aber meinte, das könne und dürfe er nicht, denn noch geschehe ja nichts, was ein Einschreiten seinerseits rechtfertige.

Es war nur ein Glück, daß Tante Riekchen all die einsamen langen Jahre hindurch die Zinsen ihres Vermögens nicht verbraucht hatte und sich nun in der Lage befand, den Herrengelüsten ihres Frieder nachgeben zu können. Der Bube war eitel, er mußte alles geschniegelt und gebügelt haben. Die Räthin nannte es „Afferei“, und ihr Fritz bekam trotz allen Jammerns und Bettelns doch immer nur die gestickten Sachen für Alltags; Riekchen aber entschuldigte den Hang des Frieder für Eleganz mit dem Schönheitssinn, den er von seinem Vater, der ein Künstler gewesen, geerbt habe.

Ach, sie liebte ihn ja, den hübschen Buben, liebte ihn, wie nur ein Herz lieben kann, das jahrelang gedürstet hat, so angstvoll zärtlich, so leidenschaftlich blind, daß nichts anderes Platz fand in ihr und um sie als der Sohn des heißbetrauerten, so treu von ihr geliebten Mannes. Es war ihr eine schmerzlich süße Lust, nach Aehnlichkeiten in seinem Gesicht, nach gleichen Gesinnungen, Aeußerungen, Bewegungen zu forschen, und glückselig konnte sie den Knaben in die Arme ziehen, wenn sie etwas gefunden zu haben glaubte. Sie besaß eine kleine Büste seines Vaters; ein Freund desselben, ein junger Bildhauer, hatte sie einst modelliert; sie stand in den langen Jahren der Trennung auf einer Konsole über ihrem Nähtisch als der Einsamen größtes Heiligthum. Es gab Augenblicke, wo der Frieder diesem schönen Kopfe glich, als habe er dazu Modell gestanden – und sie liebte diese Züge, welche ihr Herz so ganz erfüllten, daß sich darin kein Raum mehr fand, die kleine verschlossene und ihrem Bruder so unähnliche „Mamsell Unnütz“ zu lieben!

(Fortsetzung folgt.)




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