Seite:Die Gartenlaube (1892) 620.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Ich kann Dir nicht sagen, wie es aussah dort in dem kleinen Hause nahe der Kapuzinerkirche. Das verstaubte öde Atelier, mitten darin die Bahre der jungen Frau, die, wie man mir sagte, sich bei der Pflege des schwindsüchtigen Gatten angesteckt hatte, um in unglaublich kurzer Zeit derselben furchtbaren Krankheit zu erliegen; dazu eine alte halb blödsinnige Person, die Mutter der Verstorbenen, die ein wahres Zetergeschrei erhob über die Last, die sie auch noch mit einem Kinde haben müsse, einem ganz abscheulich boshaften Kinde. Den Aeltesten würde sie gleich behalten, wenn ich nur die da mitnehmen wollte, und sie wies nach einer Ecke, in der ein kleines Mädchen hockte, ein armseliges mageres Ding mit großen ausdruckslosen Augen, dem Schelte und Schläge gar nicht mehr weh zu thun schienen, vermuthlich, weil es schon vom ersten Tage an daran gewöhnt worden war.

Ich machte der widerwärtigen Scene ein Ende, indem ich erklärte, beide Kinder mitnehmen zu wollen. Es ist eigenmächtig und leichtsinnig, ich gestehe es, aber das Herz drehte sich mir im Leibe um beim Anblick des kleinen jammervollen Geschöpfes, und ich denke, so völlig wird ja doch Edelsinn und Großmuth noch nicht aus der Welt geschieden sein, daß so ein armes Dingel verkommen müßte. Wäre ich ein anderer, lieber Bruder, ich behielt es selbst – aber so –“

„Behalte ich es,“ unterbrach die Stimme Riekchens den Lesenden, „es muß auch gehen. Die Freudigkeit zu diesem Schritte wird sich noch finden,“ setzte sie hinzu. „bis jetzt geschieht es nur unter dem Einfluß der Nothwendigkeit.“ Und sie drückte dem alten Freunde die Hand, klingelte ihrer Magd und begann mit neuem Rumoren im Hause, just über der Schlafstube der Frau Räthin, die sich gerade das schwarze Häubchen aus Wollspitzen auf den Scheitel setzte. Schwarze Wollspitzen schienen ihr das praktischste, sie kosteten keine Wäsche und waren haltbar.

„Luischen!“ rief sie in die Stube, wo das Mädchen den Ofen schürte, „was ist denn da oben wieder los?“

Und Luischen ging auf Kundschaft und kam mit schreckensbleichem Gesicht zurück. „Um Gotteswillen, Frau Räthin, das Fräulein richtet ein zweites Bettchen auf, ein kleines; vom obersten Boden hat sie’s herunterschaffen und neben ihrer Schlafstube aufstellen lassen, und das Käthchen sagt, es kämen nicht eines, sondern zwei Kinder.“

„Gott erbarme sich!“ rief die entsetzte Frau, „was fällt ihr ein? Unser Haus ist doch keine Kinderbewahranstalt!“ Und sie lief spornstreich’s die breite Eichentreppe hinauf und trat in die geöffnete Thür eines kleinen einfenstrigen, alkovenartigen Raumes, der dem verstorbenen Vater, dem Justizamtmann, als Aktenkammer gedient hatte. Dort stand jetzt ein schmales Gitterbettchen, darin einst beide Schwestern ihre Kinderträume verträumt hatten und in welches Fräulein Riekchen eben ein Kopfkissen als Deckbettchen legte.

„Na, ich hab’s nicht glauben wollen – jetzt seh’ ich’s,“ sagte die Frau Räthin tonlos.

„Ich kann’s selber schwer glauben,“ antwortete die Schwester und nahm eine alte Zitzgardine vom Tische, um sie prüfend gegen das Fensterlein zu halten.

„Nun, wenigstens scheinst Du Dich einfacher einrichten zu wollen bei diesem neuen Zuwachs,“ kam es von den zitternden Lippen der Frau Minna, „oder wird da auch neu tapeziert und gestrichen, und werden zu Dutzenden die theuersten Spielsachen aufgebaut wie drüben bei dem Prinzen?“ Und sie deutete mit der Hand nach der gegenüberliegenden Thüre über der ein höchst einfaches, von Tannenzweigen umrahmtes „Gott segne Deinen Eingang!“ prangte.

Riekchen antwortete nicht und begann, das rothgetüpfelte Stückchen Zeug an ein Gardinenbrett zu heften. Was sollte sie auch sagen? Jedes Wort hätte den Sturm entfesselt, der schon lange in der Luft dieses Hauses lag, und sie wollte Frieden, Frieden um der Kinder willen.

Die erregte Frau bezwang sich endlich angesichts dieser Gelassenheit, sie that nur einen tiefen Seufzer und sagte: „Wüßten’s der Vater und die Mutter, im Grabe drehten sie sich um, nicht einmal, sondern zweimal!“ Damit ging sie, um sich drunten ihr Schwarzseidenes überzuwerfen, denn sie war zu einem Kaffee gebeten bei Frau Kammerräthin Gerbach, woselbst sich auch die sämmtlichen, möglich und unmöglich aufgeputzten Kinder versammelten, um sich bei Punsch und Kuchen gütlich zu thun. Dort saß sie und erzählte mit gen Himmel gerichteten Augen, daß es doch ein wahres Kreuz um eine alte Jungfer sei. Schrullen habe das Riekchen, höher als ein Haus, aber sie, sie wasche ihre Hände in Unschuld. Drunter und drüber werde es ja gehen. „Na, Ihr werdet sehen, Kinder, denkt an mich!“




Aschermittwoch, und alles übernächtig, traurig und still; die Alten mit Kopfweh, die Kinder mit Magenbeschwerden, und dazu ein ganz abscheulicher Ostwind, der selbst durch die Fensterritzen sein Opfer sucht mit Halsschmerzen unb Schnupfen.

Frau Räthin hatte große Wäsche angesetzt; was gingen sie denn die Empfangsfeierlichkeiten da droben an? Der feuchte Dunst der Waschküche fand seinen Weg bis in den großen, mit uralten nachgedunkelten Porträts geschmückten Flur und verwischte sich mit dem Duft des frischgebackenen Kuchens, der von oben aus der neu eingerichteten Küche des Fräuleins herabdrang. Denn die Frau Räthin hatte erklärt, fortan sei es besser, jede Familie führe ihre eigene Wirthschaft.

Die Frau Räthin that sich viel darauf zugute, ihre Meinung „ehrlich“ heraus zu sagen. Daß dieser sonst recht lobenswerthe Grundsatz in einer Art Anwendung fand, die verletzend wirken mußte, fühlte sie nicht; bei ihr war Grobheit und Wahrheit gleichbedeutend. Ihr Wahlspruch lautete: „Ich kann mich nicht verstellen. Wem’s nicht paßt, wie ich bin, der soll mir vom Leibe bleiben. So ein zimperliches, rücksichtsvolles Gethue, wie es das Riekchen an sich hat, ist mir schrecklich, das ist nicht Fisch noch Vogel, nicht lau und nicht warm, basta!“

„Du gehst in die Wohnstube, dummer Bub’, und hast nicht etwa Maulaffen feil, wenn die fremden Kinder kommen!“ fuhr sie den Sohn an.

Fritz verzog sein Gesicht, denn er hatte schon die Einladung der Tante, das Mittagsbrot bei ihr zu essen, abschlagen müssen; aber gegen den Willen der Mutter gab es kein Auflehnen. Er begnügte sich, den Lauscherposten am Fenster einzunehmen und so gespannt die Mauerpforte im Auge zu behalten, als stehe er auf dem Anstand.

Droben saß auch jemand am Fenster und wartete.

Es war ein mittelgroßes behagliches Zimmer mit Wandtäfelung und dunklem Balkenwerk. In der Mitte des Raumes unter einer Hängelampe stand ein alter massiver Eichentisch; an der Wand neben dem Ofen aus Backsteinen, um den eine hölzerne Bank lief, hing ein leeres Bücherregal; es sollte sich erst noch füllen. Einige Landkarten, ein paar Bilder, Darstellungen aus der römischen Geschichte, ein Schreibpult und ein Bett vervollständigten die Einrichtung. Der Tisch aber trug eine wahre Weihnachtsbescherung an Spielen, Soldaten, Büchern, alles umkränzt mit Tannenzweigen. Das war das Zimmer, welches der kleine Friedrich Adami bewohnen sollte, und man sah auf den ersten Blick, daß Hoffnung und Liebe es eingerichtet hatten.

Fräulein Riekchens Herz hörte fast auf zu schlagen, als die Glocke drunten gezogen wurde. Die alte Dora, die just zu jener Zeit im Hause gedient hatte, als Riekchen sich von ihrem heimlich Verlobten trennen mußte, und die, nun längst Witwe, auf Bitten des Fräuleins den Posten einer Wirthschafterin in dem vergrößerten Haushalt übernommen hatte, obgleich sie Stein und Bein schwur, sie könne nicht mehr so recht schaffen, – sie lief, so rasch es ihre alten Füße gestatteten, die Treppe hinunter und an die Hausthür, während ihre Herrin dort oben stand wie gelähmt und nur eines sah, einen schlanken blonden Buben, der an der Hand des Doktors über den Hof schritt.

Die Füße zitterten ihr. Wie eine steinalte Frau schleppte sie sich bis zur Stubenthür und hinaus auf den Flur, und dort lehnte sie am Treppengeländer mit vergehendem Athem. „Mein Junge,“ flüsterte sie in heftiger Bewegung, „mein herziger armer Bub’, sei willkommen!“ Und sie zog den biegsamen Körper des schlanken Burschen an sich und starrte ihm ins Gesicht, und sie preßte ihre Lippen auf den Blondkopf, und die klaren Tropfen aus ihren Augen rannen auf das krause dicke Haar, dasselbe Haar, wie der Vater es gehabt. „Friedrich heißt Du wie Dein

Vater? Und bist Du gern zu mir gekommen? Ich will Dich

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_620.jpg&oldid=- (Version vom 31.10.2020)