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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Gemüther, Frauengemüther spinnen sich noch heute in ihre Ahnungen und Vorgefühle ein – wie Tacitus von den alten Deutschen berichtete: Sie glauben auch, daß den Frauen etwas Heiliges und Zukunftvoraussehendes innewohne, darum verschmähen sie niemals ihren Rath und fügen sich ihren Bescheiden. Mag es eine Thüringerin oder eine Preußin sein, sie hat den Kopf voll Weissagungen; sie fährt bei keiner Schafherde vorüber, ohne nachzusehen, auf welcher Seite:

Schäfchen zur Linken, wird Freude ihr winken;
Schäfchen zur Rechten, giebt’s was zu fechten –

sie wird kein Spinnlein sehen können, ohne sich das durch die ganze Welt gehende Sprüchlein vorzusagen:

Spinne am Morgen, Gram und Sorgen;
Spinne am Mittag, Glück für den andern Tag;
Spinne am Abend, süß und labend –

sie hält strenge darauf, daß das Vieh nicht mit einem Besen geschlagen wird, weil es sonst nicht gedeiht; sie wird sich hüten, ihrem Freunde etwas Spitziges zu geben, weil das die Liebe tötet; wenn sie ihm eine Haarlocke schenken würde, so sähe sie ihn nie wieder, denn Haare scheiden; sie ist sicher überaus unglücklich, wenn sie zum Neujahr das Fenster öffnet und eine alte Hexe grüßt herauf, oder wenn sie eines schönen Morgens drei schwarze Hühner auf einer Stange sieht – und wenn sie einmal nüchtern Atzi macht, so weiß sie ganz genau, weiß sie aus Erfahrung, daß das Sonntags: angenehme Gesellschaft, Montags: beschenkt, Dienstags: gekränkt, Mittwochs: geliebt, Donnerstags: einen Brief, Freitags: viel Erdenglück und Sonnabends: gehen alle, aber auch alle Wünsche zurück – bedeutet. Aber nüchtern muß sie niesen, wie auch in der Frühe, bevor sich der Osten färbt, die Träume prophetisch sind.

Daß es etwas zu bedeuten habe, wenn einer nüchtern und frühmorgens beim ersten Ausgang niesen muß, ist eine alte Sache. Natürlich, daß die Menschen den Anfang des Tages, wie den des Jahres und des Lebens, mit ihrer Geheimnißkrämerei umgaben, und daß hier der geringste Umstand vorbedeutend wurde. Wenn man mit dem linken Fuße zuerst aufsteht, wenn man den linken Schuh eher als den rechten anzieht, wenn man einen Schuh an den falschen Fuß zieht, so dringt einem der kleine Mißgriff, am frühen Morgen begangen, eine Kette von Mißhelligkeiten und endlosen Aerger ein. Man soll auch das linke Ohr nicht vor dem rechten und die linke Hand nicht vor der rechten waschen, sonst ist man den Tag über schlechter Laune, und man soll ein neugebornes Kind nicht auf die linke Seite legen, sonst bleibt es sein Lebtag linkisch. Dem Hindu ist die ganze linke Hand für unrein; beim Essen hält er sie hinter sich oder stützt sie auf. Wenn man in die Kirche geht, soll man nicht mit dem linken Fuße zuerst hineintreten. Wenn man aber im Frühling die erste Schwalbe sieht, so soll man stehen bleiben und mit einem Messer in die Erde stechen, und zwar unter dem linken Fuße: dort findet man, so heißt es im Volksaberglauben, eine Kohle, die ist gut gegen das kalte Fieber.

Aller Anfang ist wichtig und bedeutsam; auf dem Garne, das ein noch nicht sieben Jahre altes Mädchen gesponnen hat, zu schlafen, bringt der Mutter Glück; und was man träumt, wenn man die erste Nacht unter einem fremden Dache ruht, das geht in Erfüllung.

Die Geister, die uns in der Nacht während des Schlafes besuchen, sind nämlich in den Augen des Volkes, gleich den weisenden Vögeln und den Thieren, die uns den Tag über vorbedeutend begegnen, Gottes Boten und Himmelsoffenbarungen. Den Menschen, die gewohnt sind, ihre Zustände und ihre Krankheiten wie Personen leibhaft vor sich hinzustellen, die von der stillen, geheimnißvollen Thätigkeit der Seele gar keine Ahnung haben und es nicht anders wissen, als daß jedes Ding seine Ursache haben müsse, werden natürlich auch die Bilder, die ihnen die Phantasie der Nacht vorgaukelt, wie etwas Selbständiges, außer ihnen Lebendes vorkommen, etwa wie die Seelen Verstorbener, die auch so huschen und auch nicht festzuhalten sind. Wer mag denn auch die reinen Hirngespinste von begründeten Vorstellungen immer unterscheiden? Wer vermag denn recht anzugeben, ob er wirktich wach sei? Wie sagt doch gleich Calderon?

Ja, der Mensch, das seh’ ich nun,
Träumt sein ganzes Sein und Thun,
Bis zuletzt die Träum’ entschweben.
Wenig kann das Glück uns geben,
Denn ein Traum ist alles Leben …

ein rechter langer räthselhafter Traum, voller Gesichte wie der Traum, voll poetischer Vergleiche wie ein Traumbuch. Daß das Ausziehen eines Zahnes den Tod eines Familiengliedes bedeute, liest man in jedem Traumbuch: der Mund bedeutet das Haus, die Zähne sind die Insassen des Hauses, rechts die männlichen und links die weiblichen; am Rheine setzen sie hinzu, daß der ausgezogene Zahn bluten müsse, wenn er den Verlust eines Verwandten bedeuten solle. Thränen werden im Traume am liebsten durch Perlen angedeutet, wie schon Emilia Galotti weiß. Sie konnte ihm gram sein, dem Geschmeide, denn dreimal hat es ihr geträumt, als ob sich jeder Stein desselben in eine Perle verwandelte; „Perlen aber, meine Mutter, Perlen bedeuten Thränen!“ Das ist ganz dichterisch; die Dichter vergleichen die Thränen wie die Zähne überall mit Perlen. Emilia Galotti stammt aus Italien; einer Landsmännin, der Königin von Frankreich, Maria von Medici, wird ein ähnlicher Traum von den Historikern zugeschrieben. In einer Mainacht des Jahres 1610, vor der Ermordung des Königs Heinrich IV., soll sie geträumt haben, daß sich die zwei großen Diamanten, die sie dem Juwelier zum Einsetzen in ihre Krone gegeben hatte, in Perlen verwandelt hätten.

In der That sind es nicht selten die Geschichtschreiber, die nachträglich für ihre Helden träumen und einen Traum erfinden, der ihnen in den Kram paßt. So erzählt Fredegar einen schönen Traum des fränkischen Königs Childerich, den dieser in der Hochzeitsnacht gehabt und der ihm die Größe seines Sohnes Chlodwig und die Leiden seiner Nachkommen vorausverkündigt haben soll. Childerich träumte, er gehe in den Hof und finde ihn voller Löwen, Leoparden und Einhörner. Er sah abermals hinein, da liefen Bären und Wölfe durch den Hof. Er sah zum dritten Male hinein, da balgten sich die Hunde und die Katzen. Basina, seine Braut, eine Thüringerin, gab dem Traume die Deutung: er hatte die Zukunft der Merowinger, des ersten fränkischen Konigshauses, erschaut. Zuerst, meinte sie, werden die Konige mit den Großen allein sein. Dann wird der Mittelstand regieren. Endlich wird das kleine Volk regieren.

Es giebt überhaupt kaum irgend einen bedeutenden Mann in der Weltgeschichte, vor dessen Geburt nicht irgend etwas geträumt worden wäre, sei es nun von der Mutter oder vom Vater oder vom Großvater oder eben von der Sage, die in solchen Fällen geschäftig ist.

Indessen, wie zweifelnd man sich auch den sogenannten „historischen“ Träumen gegenüber verhalten mag, man würde doch zu weit gehen, wenn man alle Träume ohne Unterschied für müßige Erfindungen halten wollte; und zwar läßt sich ein vorsichtiger Glaube daran recht wohl mit einer kühlen naturwissenschaftlichen Betrachtung vereinigen. Es unterliegt ja gar keinem Zweifel, daß die Traumbilder so wenig wie die Blitze und die weisenden Vögel von einem Gotte gesendet werden, sondern in der geheimen Werkstatt des Gehirns, auch des thierischen, zubereitet werden – denn auch die Thiere, z. B. die Hunde, träumen. Die Traumbilder haben insofern etwas Verständigeres, als hier in der That bisweilen eine noch unerforschte Seelenkraft, eine Art Prophetengabe zu Tage zu treten scheint. Die Vorzeichen können nicht anders als zufällig sein sie haben mit dem berechnenden Verstande nichts zu thun, der Zusammenhang, in den sie mit den Schicksalen der Menschen gebracht werden, besteht ausschließlich in der Einbildung der letzteren. Die Traumbilder sind im allgemeinen auch nur zufällig, blinde Nachwirkungen der Tageseindrücke und der Tagesereignisse, erfahrungsgemäß beschäftigt sich der Träumende am häufigsten und liebsten mit den Dingen, die ihn während des wachen Zustandes in Anspruch nahmen; in einzelnen Fällen aber, wenn die Saiten der Seele abgespannt und die Nerven entlastet sind, stellen sich ganz neue, deutlich umschriebene, unvorhergesehene Bilder ein, die man aus der bisherigen Richtung der Phantasie nicht, sondern nur aus stillen Beobachtungen, heimlichen Schlüssen und aus den verborgenen Tiefen des Denkorganes erklären kann. Nicht nur neu sind die Traumbilder dann und wann, auch alte bekannte Vorstellungen drängen sich überraschend auf, ohne daß es bei eifrigstem Nachdenken gelänge, eine Vermittlung nachzuweisen. Daß wir plötzlich von Dingen und Personen träumen, an die wir vorher nicht im mindesten gedacht haben, welcher von den Lesern könnte das

nicht aus eigener Erfahrung bestätigen? – Im Traume thun die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 606. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_606.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)