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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

gerade in der verhängnißvollen Sekunde, als der Vater die Kapsel abhob.

Merkwürdigerweise war das Stativ so freundlich, nicht umzufallen, sondern nur etwas zur Seite zu rutschen, so daß die Hoffnung nicht ausgeschlossen schien, es möchte ein, wenn auch etwas anderes, so doch brauchbares Bild entstanden sein.

Grimme Zweifel über den Ausgang des Unternehmens durchwühlten allerdings die Brust des ausübenden Künstlers, der nur noch mit geballten Fäusten einherging, sowie er „Darlings“ ansichtig wurde, und jeden Haselnußstrauch auf eine geeignete Gerte für den Vierfüßler ansah.

Die Stimmung des Vaters wurde etwas besänftigt dadurch, daß Anton inzwischen zur Einkehr in sich selbst gelangt schien und als sanftes, artiges Kind sich wieder zu den anderen gesellte.

Wie viel die Nähe des Abendbrots zu diesem innerlichen Vorgang beigetragen hatte, wollen wir nicht untersuchen, in jedem Falle nahm man ihn als vollendete Thatsache dankbar hin und enthielt sich wohlweislich jeder anerkennenden Bemerkung, die nach alter Erfahrung tobende Rückfälle in die kaum überwundene Ungezogenheit herbeizuführen pflegt.

Nach einem braven Spaziergang durch den Wald schien es an der Zeit, sich den Freuden der Tafel hinzugeben, die zugleich den Schluß der heutigen Vergnügungen bedeuteten.

Die Mutter schritt mit Feldherrnmiene voran, um einen letzten Blick über den lockenden Tisch zu werfen – prallte aber entsetzt zurück, denn ein unerfreuliches Bild bot sich ihren Augen dar!

Die Symmetrie der „süßen Speise“ war durch einen frevelhaften „Eingriff“ im vollsten Sinne des Wortes zerstört – eine unverkennbare Menschenhand hatte sich – vielleicht in der Absicht, eine der obenauf liegenden Früchte zu mausen, der glatten Oberfläche anvertraut und war, wie in zu dünnem Eise, bis über die Knöchel in dem weichen Element eingebrochen.

Ein allgemeiner Sturm der Entrüstung erhob sich, dem natürlich ein hochnothpeinliches Verhör folgte – aber ohne Erfolg!

Die an alle der Reihe nach gerichtete drohende Frage „Hast Du von der süßen Speise gegessen?“ begegnete allseitig und ausnahmslos einem höchst entschiedenen und überzeugungstreuen „Nein!“, und man sah sich starr und rathlos gegenseitig an.

Ein Vorschlag von Franz, die Hände sämmtlicher Kinder zur Probe in die zurückgelassenen Merkmale einzupassen, wurde als zwar zweckmäßig, aber unappetitlich mit großer Empörung zurückgewiesen. Die Familie konnte sich nur mit der Annahme trösten, daß irgend ein umherstreifender Unhold ihr diesen Schmerz angethan habe.

Wie man begreifen wird, litt die Stimmung beträchtlich unter diesem betrübenden Vorfall, und der einzige, der daraus Vortheil zog, war „Darling“. Man opferte ihm nämlich das geschädigte Mittelstück, und er hatte sonach alle Ursache, den Räuber als seinen ungenannten Wohlthäter hoch zu verehren.

Inzwischen dämmerte der Abend herauf, und man begab sich heimwärts.

Der Apparat wurde diesmal, um der Gerechtigkeit nicht ins Antlitz zu schlagen, von Franz übernommen, trotzdem Anton, der im Gegensatz zu seiner bisherigen Laune eine wahrhaft beängstigende Artigkeit an den Tag legte, sich freiwillig erbot, ihn auch zurückzuschleppen.

Der Rest der süßen Speise war den Förstersleuten zurückgelassen worden, da keines mehr Appetit darauf verspürte. Selbst Anton hatte nichts dagegen einzuwenden, obwohl er sonst die bekannte Redensart an sich rechtfertigte: „Der Junge muß Doktor werden – der graut sich vor nichts!“

Im ganzen konnte man übrigens den Ausflug, von diesem Speiseabenteuer abgesehen, doch für ein gelungenes Unternehmen erklären. Herminens Bienenstich schwoll schon ab, Franz trug ohne Geknurr den Kasten, Anton war artig geworden, und einige Platten brachten besonders hübsche Momente des Tages mit heim, die im Weinkeller ihrer Auferstehung entgegen harrten.

Da der nächste Tag ein Sonntag war, so konnte nach der Kirchzeit, von Berufsgeschäften ungehindert, das Entwickeln der Platten vor sich gehen.

Anton und Franz wurden zum Helfen befohlen und standen mit dem Hausherrn beim rothen Lichte der kleinen Laterne im Keller – nicht nebeneinander, sondern durch den Vater getrennt, da die unausbleiblichen gegenseitigen Püffe das Gleichgewicht der Schalen, in denen die Platten lagen, nicht unerheblich bedroht hätten.

Der Vater als der, „der all dies Herrliche vollendet“, behielt sich das reizvolle Geschäft des ersten Hervorrufens seiner Bilder vor und schaukelte emsig.

Die Jungen sahen zu.

„Ich bin neugierig, wie es geworden ist,“ bemerkte der Amateur, „das Unthier, der ‚Darling‘, hat mir ja das Stativ im entscheidenden Augenblick verschoben – wer weiß, ob überhaupt etwas herauskommt!“

„O ja!“ rief Franz, „da sind schon Bäume!“

„Ja, ja!“ bestätigte der Vater, „aber das ist ein anderer Vordergrund – was wird denn das?“

Anton drängte sich ungeduldig näher. „Zeig’ doch!“ bat er fröhlich und unbefangen – um aber im nächsten Augenblick ungefähr die Empfindung der beiden Uebelthäter zu theilen, die sich durch die Kraniche des Ibykus verrathen fühlten.

Auf der Platte erschielt nämlich mit erbarmungsloser Deutlichkeit der gedeckte Abendtisch, die „süße Speise“, und – darüber schwebend – das sprechend ähnliche, gierige Gesicht Antons nebst seiner eben in die Speise versinkenden kleinen Pfote!

Der Apparat hatte sich in allen unerwarteter und für Anton geradezu vernichtender Weise als Detektiv benommen – und der Stoß, der ihn aus seiner Lage brachte, sollte für den Speiseattentäter die betrübendsten, wenn auch pädagogisch segensreichsten Folgen haben.

Der Vater fand zuerst die Sprache wieder. Er faßte seinen Sohn voll gerechtfertigter Empörung am Ohrläppchen und riß tüchtig drauf los.

„Was ist denn das?“ rief er zornig.

„Mein Ohr!“ winselte Anton in nicht ganz logischer, aber erklärlicher Beantwortung dieser Frage und versuchte der väterlichen Hand zu entfliehen.

Aber wieder erwies sich die photographische Kunst als wirksame Unterstützerin erziehlicher Grundsätze – der Keller war, um jeden Lichtstrahl zu vermeiden, zugeschlossen, und nach einer wilden Treibjagd, an der sich übrigens Franz anständigerweise nicht betheiligte, erwischte der Vater das photographierte moralische Ungeheuerchen und verabfolgte ihm eine eindringliche und heilsame Erläuterung zu den verschiedenen Gesetzen, die er freventlich übertreten hatte.

Anton hatte übrigens den einen schwachen Rechtfertigungsgrund für sich anzuführen, daß er nicht geradezu „geschwindelt“ hatte, denn sein „Nein!“ auf die Frage: „Hast Du von der Speise gegessen?“ entsprach den Thatsachen.

Er hatte im Schrecke über sein Mißgeschick seinen Vortheil nicht wahrgenommen und nichts von dem Raube gekostet! Aber der in dieser ausweichenden Erwiderung liegende Sophismus verlangte, verdiente und erhielt die bewußte „Jacke voll“, die zum Heile unserer heranwachsenden Jugend noch nicht ganz aus der Mode gekommen ist und sich wohl auch noch so lange erhalten wird, wie es unartige Jungen und – vernünftige Väter giebt!

Daß dieser spezielle Vater nach dem erzählten Erlebniß aber seinen Apparat als moralischen Erzieher noch einmal so hoch hielt wie früher, versteht sich von selbst. Es läßt sich ja auch gar nicht leugnen, daß er sich in diesem Falle als ungewöhnlich praktisch bewiesen hatte.

Der Landgerichtsrath verfertigte von der verhängnißvollen Platte denn sofort mehrere Abzüge mit der furchtbaren Drohung, bei der nächsten Ungezogenheit einen davon in Glas und Rahmen an Antons Klassenlehrer zu schenken – und bei hartnäckiger Nichtsnutzigkeit Antons dereinstige Braut auch mit diesem verewigten Bubenstreich zu bedenken.

Wenn Anton nun kein Musterknabe wird, kann niemand etwas dafür – und besonders nicht der Vater und der Amateurphotograph!


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_602.jpg&oldid=- (Version vom 11.4.2024)