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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

erscheinen ließ, ob er nicht eigentlich seinen Beruf verfehlt habe und bei der Wiederholung der bekannten Wendung: „Bitte, recht freundlich!“ sich bedeutend wohler gefühlt hätte als beim Studium der Rechte.

Selbst die anfänglichen Mißerfolge, die er zu verzeichnen hatte, vermochten ihn nicht zu entmuthigen. Nachdem er durch etliche Handgreiflichkeiten seinen heranwachsenden Kindern die Lehre: „Alles ansehen, nicht anfassen!“ im wahrsten Sinne des Wortes „einverleibt“ und ihnen das mit einem alten türkischen Shawl der Mutter verhangene Stativ so unheimlich gemacht hatte wie das hochselige verschleierte Bild von Sais, begann der Amateurphotograph die Welt nur noch von seinem besonderen und augenblicklich vorherrschenden Gesichtspunkt aus zu betrachten.

Er verwandelte die ganze Häuslichkeit von Stund’ an in sein Atelier. Ein schwacher, aus Chlor, Terpentin und Kollodium zusammengesetzter Wohlgeruch schwebte jetzt beständig durch alle Räume, und nur der Landgerichtsrath selber merkte nichts davon, trotzdem er gemeinhin für die leisesten Ahnungen des Begriffs „angebrannt“ mit einer wunderbaren Spürnase gesegnet war, die seine Frau schon oft beseufzt hatte.

Das Wohnzimmer mußte zuerst photographiert werden. Der Vater zog mit dem Stativ in allen Ecken herum, um den Fleck zu entdecken, von wo aus sich der Raum am malerischsten ausnähme. Leider ergaben diese Rundreisen fast ausnahmslos, daß die Ecken, wo das Klavier oder der centnerschwere Schrank standen, die geeignetsten Punkte zur Aufstellung des Apparats boten, und die verhängnißvolle Aufforderung an den ältesten Jungen: „Faß’ mal an, Franz!“ gab durchschnittlich vier Mal des Tages das Zeichen zu einer so gänzlichen Umwälzung des Mobiliars, wie sie sonst nur bei Umzügen stattzufinden pflegt.

Die erste Aufnahme war denn aber doch endlich gemacht; im Weinkeller, der zur Dunkelkammer umgewandelt war, hatte man die Platte entwickelt, und der Landgerichtsrath, von seinen staunenden Kindern gefolgt, stieg triumphierend aus der Unterwelt empor und zog sich mit der ersten Frucht seines Fleißes in das Fremdenzimmer zurück, das sein Atelier war. Nach wenigen Stunden trat er zu seiner Gattin und legte mit stolzem Lächeln ein etwas schattenhaftes Blättchen vor sie hin: „Da, Elise – was meinst Du dazu?“

Elise bemühte sich redlich, in dem Dämmer die Umrisse des Wohnzimmers zu entdecken, und erklärte schließlich, mehr höflich als wahrheitsliebend: „Es scheint ja sehr scharf geworden zu sein!“

Nachdem die Gefahr, daß die Kinder das Blättchen in der Gier des „Laß mich sehn!“ zerreißen würden, glücklich abgewendet war, legte die Mutter das Kunstblatt auf ihren Nähtisch.

Da lag es allerdings am nächsten Morgen noch – aber die Sonne oder die Luft oder sonst ein boshaftes Element hatten jede Spur eines Bildes davon abgeleckt, und eine glatte, bräunliche Fläche ließ der Phantasie des Beschauers einen recht weiten Spielraum in Betreff dessen, was einmal darauf gewesen sein konnte. Dies Naturspiel wiederholte sich durch etwa acht Tage, während deren die geduldige Wohnstube immer wieder dem unermüdlichen Photographen „saß“, auf der Platte erschien und über Nacht verschwand, so daß in der Seele des Hausherrn schon die düstere Sorge auftauchte, daß Dilettanten am Ende immer nur diese höchst vorübergehende Freude an ihren selbstgefertigten Bildern hätten.

Aber die Ausdauer wurde belohnt! Ein Wink von sachverständiger Seite klärte den begangenen Fehler und damit zugleich den räthselhaften Vorgang auf, und der Landgerichtsrath erlebte den Triumph, daß seine Frau, die Jungen, das Töchterchen Hermine, ja sogar der Papagei und „Darling“ der Reihe nach von ihm photographiert und dauerhaft auf das Papier gebannt wurden.

Von diesem Augenblick an stieg die Leidenschaft des Hausherrn für seinen Apparat aufs höchste. Er verlor das Interesse für alles andere, und seine Familie sah ihn überhaupt nur noch in den seltensten Augenblicken, da er immer entweder mit dem Kopfe unter dem bewußten türkischen Tuch steckte und Aufnahmen machte, oder im stockfinstern Keller saß und Platten entwickelte. Er beobachtete die Seinen jetzt naturgemäß mit Falkenblicken auf Photographiermomente, und sowie seine Frau oder eins der Kinder sich ahnungslos in einer Stellung befanden, die der Vater für „malerisch“ erachtete, rief er plötzlich mit Donnerstimme: „Halt!“ und photographierte sie meuchlings. Viele seiner Bilder zeigten infolgedessen einen entsetzten Ausdruck, da die Betreffenden, so angeschrien, vor Angst nicht mehr eine Miene zu verziehen wagten, bis der Künstler sie aus ihrer Starrheit erlöste.

Selbst die Gesetze der Gastfreundschaft litten unter der alles beherrschenden Leidenschaft, denn die Besuche wurden nur noch daraufhin betrachtet, ob sie sich zu „Aufnahmen“ eigneten, und meist sofort nach ihrem Erscheinen für diesen Zweck eingefangen. Da die Vorbereitungen noch etwas lange dauerten und der Landgerichtsrath grob wurde, sowie sein Opfer sich rührte, so konnte es geschehen, daß ein Gast, der sich zu einem „Plauderstündchen“ eingefunden hatte, zwanzig Minuten in einer ihm gewaltsam aufgezwungenen Stellung vor dem Apparat saß, dann seine Zeit abgelaufen fand und nach Hause gehen mußte, ohne ein Wort außer „Guten Tag“ und „Adieu“ gesprochen zu haben.

Innerhalb der Familie legten sich freilich dem künstlerischen Schaffen manchmal Hindernisse in den Weg.

Es war beschlossen worden, ein wirkungsvolles Bild zusammenzustellen, welches alle Mitglieder des Hauses in einer strahlenden Einigkeitsgruppe verewigen sollte.

Da der Hausherr auf diesem Bilde, der Vollständigkeit halber, nicht fehlen durfte, aber doch unmöglich sich selbst photographieren konnte, so war die vielseitige Köchin des Hauses als vorübergehender Assistent für diese Aufgabe gewonnen und zum rechtzeitigen Entfernen und Wiederaufsetzen der Kapsel schon tagelang abgerichtet worden.

Mit der selbst bei kleineren Familien unvermeidlichen Schwierigkeit war alles versammelt worden. Die Mutter hatte „nur noch“ eine Speise auf den Herd stellen wollen – Franz und Anton mußten, wie gewöhnlich, aus allen Ecken zusammengesucht werden, da sie sich immer in den Augenblicken verkrümelten, wo sie gebraucht wurden, und ebenso unfehlbar mit größter Pflichttreue und Pünktlichkeit erschienen, wenn sie recht überflüssig und unerwünscht waren.

Hermine zeigte sich auch beschäftigt. Sie gehörte zu der Gattung der alles aufbewahrenden Menschen, deren rührende Anhänglichkeit an Gegenstände von zweifelhaftem Werthe und Geschmack ebenso berüchtigt ist wie ihre Leidenschaft, die Entstehungsgeschichte ihrer Besitzthümer bis in die Steinzeit zurück sich zu merken und dieselbe mit allen Einzelheiten in grauenhafter Ausführlichkeit irgend einem vor Ungeduld vergehenden Mitmenschen vorzutragen – selbstredend immer in den ungeeignetsten Augenblicken!

So war ihren Händen kürzlich ein weißes Zucker-Ei entglitten, das infolge seiner jahrelangen Aufbewahrung schon „in Ehren grau“ geworden war und sich nun noch eine Ecke abgeschlagen hatte. Diese Ecke suchte Hermine seit drei Tagen unter allen Möbeln, wühlend und weinend, trotzdem man ihr erstens mit allen naturwissenschaftlichen Gründen bewies, daß Zuckerstücke sich nie wieder ankleben lassen, und trotzdem zweitens Anton das fragliche Objekt schon längst gefunden und aufgegessen hatte. Diese Leistung war jedenfalls bewundernswerth, da der Leckerbissen nicht viel jünger war als er selbst.

Aber wie gesagt, Hermine suchte mit zäher Beharrlichkeit nach wie vor und stak eben wieder mit dem Kopfe unter dem Kleiderschrank, unter dem sie hervorgezogen werden mußte, um in der zu photographierenden Familiengruppe nicht zu fehlen.

Endlich war man vollzählig versammelt, der Vater gruppierte die Seinen mit Sachverständniß, und alles saß regungslos und holdselig lächelnd nebeneinander. Die Köchin zückte eben die Kapsel – da ertönte aus der nahen Küche ein zischendes Geräusch – und die Hausfrau, über der rauhen Wirklichkeit die Idealwelt der Kunst vergessend, erhob sich und stürzte mit dem Rufe. „Die Milch brennt an!“ davon, die wirkungsvolle Gruppe solchergestalt ihres Mittelpunktes beraubend.

Das Bild, welches doch „geworden“ war, zeigte an Stelle der Mutter ein leeres Stück Hintergrund, das von den Jungen mit den Worten: „Das ist die Mama!“ noch lange unter Freudengelächter gezeigt wurde.

Der Vater gab es nach diesem verunglückten Versuch zunächst mißmuthig auf, die Häupter seiner Lieben vollzählig zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 598. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_598.jpg&oldid=- (Version vom 11.4.2024)