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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Luft zerfloß. Eine zweite folgte, eine dritte – gewaltige Athemzüge tönten herüber.

Die Gruppen wurden lebendig, vergrößerten, sammelten sich. Eine Schar Jungen mit wehenden Fahnen kam gezogen, Kommandoworte ertönten, Glieder bildeten sich, und, die Jungen voraus, ging es in langgestrecktem Zuge dem Maschinenhaus zu; Frauen und Kinder bildeten den schwärmenden Troß.

Im Maschinenhaus, dicht hinter dem weitgeöffneten Portal, aus dem ein Schienenstrang durch den Hof, an der Villa Berrys vorbei, in weitem Bogen um die Werke herumführte, stand die „Claire“, den blitzenden funkelnden Leib mit Tannenreis geschmückt, vorn an der breiten Brust in glänzenden Lettern den mit Lorbeer umkränzten Namen. Förmlich ungeduldig schien sie des Zeichens zu warten, um zum ersten Male ihre stolzen Glieder zu recken, der Welt sich zu zeigen. Ein leichtes Beben durchlief den blanken Körper, sie holte immer tiefer Athem. Gespannt beugte sich der Führer hinaus, um das festgesetzte Signal von der Villa her sofort mit der That beantworten zu können und abzufahren. Neben ihm stand Hans Davis, der Monteur. Herr Berry hatte es ausdrücklich so angeordnet. Der angekuppelte Tender war dicht besetzt mit den Werkführern und Arbeitern, die beim Baue beschäftigt gewesen waren. Bei allen herrschte die höchste Spannung, forschend glitten die Blicke über das blitzende Triebwerk hin, das in seiner äußeren Form wenig abzuweichen schien von dem anderer Maschinen; nur der zierliche, trotz seiner gewaltigen Masse den Eindruck des Leichten hervorrufende Bau des Ganzen fiel sofort in die Augen.

Inmitten der allgemeinen Unruhe stand Hans scheinbar unbewegt, aber in ihm stürmte und wogte es, und eine fliegende Röthe, die von Zeit zu Zeit über sein Gesicht zog, konnte seine Erregung verrathen. Mit sehnsüchtigen Blicken schaute er den Schienenstrang entlang – wenige Minuten noch und sein Traum war erfüllt! Gestern nacht, hinter einem der mächtigen Bäume verborgen, hatte er den Wagen anfahren sehen, der sie brachte, hatte einen Augenblick sie selbst geschaut – ihre hohe Gestalt, den Goldschein ihres Haares, und mit süßem Schauer war er sich deutlicher als je bewußt geworden, daß Claire ihm nicht mehr die Jugendfreundin war, die Herrin, deren geduldiger Sklave er einst gewesen, sondern die Geliebte, Heißbegehrte, der Inhalt, der Preis seines ganzen Lebens, um den er ringen mußte mit all seinen Kräften. Da ertönte ein Böllerschuß, hoch über den Gebäuden schoß an hohem Maste eine Flagge empor – ein Griff des Führers der Maschine, ein geller Pfiff wie ein mächtiger erster Lebensschrei, und in weiße Dampfwolken wie in einen Brautschleier gehüllt, glitt die „Claire“ zur Halle hinaus, begrüßt von einem donnernden „Hurra“ der Arbeiter. Und sie schien den Zuruf zu verstehen, das Kolbengestänge blitzte in hastigem Schwunge, mit jugendlicher Schnellkraft kreisten die Räder. Elastisch, fast ohne Erschütterung fuhr die Maschine dahin. Im Nu stand sie dann unter vollem Dampfe und stürmte durch den Hof, an den Hallen vorbei.

Hans hielt sich mit der Hand an der Eisenstange der Brüstung; den Körper weit hinausgebeugt, horchte er auf den Pulsschlag der „Claire“, sein Blick schien ihre äußere Hülle durchdringen und ihr bis ins Herz sehen zu wollen. Da nahm sie wie eine Schlange geschmeidig eine enge Knrve.

Lauter Zuruf erscholl von ferne. Er schaute auf; von einer kleinen fahnengeschmückten Erhöhung herab winkten weiße Tücher, grellfarbige Schirme, Hüte. Seine Hand krampfte sich um die Eisenstange – tausend Gedanken, Erinnerungen kreuzten sich blitzartig in seinem Gehirn. „Schwing’ Dich empor, so hoch Du kannst!“ klang es, alles übertönend.

Nun schieden sich die Farben; eine große Gesellschaft stand auf der Tribüne, vorn an der Brüstung eine Dame, ein weißes Tuch schwingend – Claire! Und jetzt warf der Führer einen scharfen Blick durch die runde Scheibe neben seinem Platze – es galt die „Claire“ tadellos vorzuführen wie ein edles Rennpferd. Ein Ruck und mächtig griff die Bremse ein, mitten im Laufe hielt die Maschine, zischend den Dampf ausstoßend, der sie einen Augenblick fast verhüllte. Dann zerriß der Schleier; von der Tribüne herab schritt Claire, an der Hand ihres Vaters, begleitet von Herren und Damen. Vor der Lokomotive blieb sie stehen. „Glück auf, ‚Claire‘, gute Fahrt allweg!“ rief sie mit lauter Stimme und reichte einen Kranz aus weißen Kamelien hinauf. Hans griff danach, auch ihre Hand hielt noch den Kranz, der so eine duftige Brücke zwischen ihnen bildete. Mit flammendem Blicke sah Hans zu ihr nieder, und erröthend senkte sie eine Sekunde lang das Haupt. Dann hob sie wieder ihr Auge, das nun an der männlichen Erscheinung ihres Jugendgespielen haften blieb.

„Herr Davis hat sich redlich bemüht um diesen Täufling und steht ihm näher, als Du glaubst,“ sagte Herr Berry, die Erregung der beiden ahnend und ablenkend.

Claire ließ den Kranz los. Hans schwang sich hinauf und befestigte ihn über dem glänzenden Namen vorn am Kessel.

Da begann die Musik – die Arbeiter hatten sich in der Nähe gesammelt. Herr Berry trat zu ihnen und hielt eine Ansprache, nicht in dem geschäftsmäßigen Stil von sonst, ein höherer Schwung beseelte sie heute. Er dankte allen, die mitgewirkt hatten an dem Werke, für ihre redliche Pflichterfüllung und drückte die Hoffnung aus, daß die „Claire“ dem Hause Berry zur Ehre gereichen werde. Plötzlich machte er eine Pause. Sein Blick ruhte auf Hans, der noch immer auf der Maschine stand. Ein innerer Kampf spiegelte sich in den erregten eisernen Zügen des Fabrikherrn. „Noch habe ich eine Pflicht zu erfüllen,“ fuhr er dann fort, „den Namen eines Mannes, eines Arbeiters habe ich zu nennen, der eng verbunden ist mit diesem neuen Werke, in dem der Gedanke zu dem neuen vielversprechenden System, dessen erste Vertreterin die ‚Claire‘ ist, geboren wurde – denn ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß nur die praktische Verwerthung dieser Idee mein Eigenthum ist. Hans Davis, mein Monteur, ist der eigentliche Erfinder! Kommen Sie nur herab, Davis, und genießen Sie die Ehre, die Ihnen zukommt – stimmen Sie ein mit uns in den Ruf: ‚Es lebe die Arbeit für und für!‘ und brausend erschallten die Zurufe.

Hans war aschfahl geworden; er konnte sich kaum noch aufrecht halten und bedurfte der hilfreichen Hand Berrys, um herunterzukommen. Alles tanzte vor seinen Augen in wildem Reigen, nur Claire sah er deutlich; ihr Blick war auf ihn gerichtet.

Der Kommerzienrath stellte ihn seinen Gästen vor, dem Eisenbahnminister, der zur Verherrlichung dieses industriellen Festes in eigener Person erschienen war, seinen Kollegen die von weit und breit gekommen waren. Neugierig betrachtete man den Helden des Tages; gnädige Herablassung mischte sich mit erzwungener Achtung vor dem Genie und der Thatkraft dieses Jünglings, mit dem Neide über den kostbaren Besitz Berrys. Die Geschichte seines Lebens ging in kurzen Umrissen von Mund zu Mund, und ihre Romantik erhöhte noch die allgemeine Antheilnahme.

Den Damen entging über dem allem nicht die männliche Kraft des jungen Mannes, welche in dieser höchsten seelischen Erregung voll zur Geltung kam.

Nur Frau Berry und Otto blieben kalt abseits; ihre abfälligen Mienen sagten deutlich, daß nach ihrer Ansicht Papa einen großen Fehler begangen habe.

Hans hörte nur die Hälfte der Lobsprüche, die ihn umschwirrten; sein einziger Gedanke war: was wird Claire mir sagen? Diese hatte sich in den Hintergrund zurückgezogen und beobachtete ihn durch ihr Augenglas. Das verwirrte, schmerzte ihn – eine geringschätzige Neugierde, etwas Hochmüthiges lag in der ganzen Bewegung. Dieses Glas schien ihm eine beabsichtigte Scheidewand; Claire besaß ein so gutes scharfes Auge, und eben noch hatte es so klar, so voll Kindlichkeit ihn angeblickt wie einst!

Jetzt klappte die junge Dame ihre Lorgnette zu und trat heran. Ein hellgraues Kleid hob durch seinen einfachen Schnitt ihre edlen Formen; das Haar erglänzte röthlich wie Gold unter dem grauen Hütchen. Die Züge des Antlitzes hatten sich verfeinert, aber der kindliche Ausdruck war daraus geschwunden, und trotz des jugendlichen Inkarnats zeigten sie eine gewisse kränkliche Schlaffheit, an der allerdings die Anstrengung der Reise schuld sein mochte. Der schelmische Blick von einst war noch da, aber nicht mehr so unbewußt wie früher; er schien jetzt ganz in ihrer Gewalt zu sein. Für einige Sekunden ließ sie demselben freie Bahn, während sie sich näherte, dann war es, als ob sie wieder durch das Glas blicke – so kalt und tot schaute sie Hans an. Sie reichte ihm die behandschuhte Rechte. „Ich freue mich, gerade zu Ihrem Ehrentag gekommen zu sein, Herr Davis, und gratuliere Ihnen von Herzen. Sie sind ein Glückskind – Sie haben einen hohen Weg genommen!“

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