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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

lange im Spiegel. Das rastlose Vorwärtsstreben, die Sorge um den Vater, die Erfahrungen in der „Fackel“ gaben ihm ein älteres Aussehen, als ihm an sich zukam. Ein dunkler Bartanflug ließ die weiße Farbe seines Gesichts um so lebhafter hervortreten. Das schwarze Auge blickte scharf mit frühem männlichen Ernste, die Stirn war umrahmt von kurzlockigem, glänzend schwarzem Haar. Hans konnte nicht für schön gelten, dazu waren seine Züge zu derb und unregelmäßig, aber er hatte schon jetzt einen männlichen Charakterkopf, der durch seine gehaltvolle Kraft auffallen mußte.

Frau Berry war sichtlich überrascht, als der junge Mann in den Salon trat; sie hatte ihn seit Claires Abreise nur selten und dann nur oberflächlich gesehen, und so war er ihr immer noch als Kind, als der Spielgenosse ihrer Tochter in Erinnerung. Heute früh erst hatte sie einen Brief von Claire erhalten, in dem sich diese angelegentlich nach Hans Davis erkundigte; sie hatte sich gefreut über die Gutherzigkeit des Kindes, das mitten im Pariser Leben des armen Knaben gedachte; jetzt beim Anblick des jungen Mannes schoß ihr plötzlich ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf. Es war doch eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit gewesen, die beiden jungen Leute so lange wie Kinder unbeachtet miteinander verkehren zu lassen! Wie leicht hätte das schlimm ausfallen können . . . oder war es schon schlimm ausgefallen? Hatte Claire aus tiefer liegenden Gründen als aus Gutherzigkeit sich so angelegentlich nach dem alten Kameraden erkundigt? Aber nein, das war ja die reine Unmöglichkeit, Unsinn! Ein Monteur, der Sohn eines Arbeiters, und Claire Berry! Trotzdem sie sich auf diese Weise zu beruhigen suchte, wollte doch der thörichte Gedanke, der sie verfolgte, nicht weichen. Aber sie war nicht gewohnt, sich von halben Befürchtungen lange quälen zu lassen, und beschloß, der Sache rasch auf den Grund zu kommen. Sie war noch allein mit Hans, der sich in seiner freudigen Unruhe fast allzu pünktlich eingestellt hatte, so konnte sie ungestört ihren Zweck verfolgen. Scheinbar harmlos begann sie von der Kindheit ihres Pflegebefohlenen zu reden, von einzelnen Ereignissen daraus, die in enger Beziehung zu Claire standen.

Hans, dessen Herz bei diesem vertraulichen Gespräch und den alten Erinnerungen höher und höher schlug, hatte Mühe, seiner Aufregung Herr zu bleiben. Er war sich bewußt, wie viel er durch ein unvorsichtiges Wort verrathen könne, und widerstand daher lange der Versuchung, sich nach Claire zu erkundigen. Endlich vermochte er doch die langersehnte Frage nicht mehr zurückzuhalten.

„Wie geht es Fräulein Claire?“ Er fühlte, daß er glühend roth wurde, und schlug vor dem forschenben Blicke der Kommerzienräthin verwirrt die Augen nieder.

Frau Berrys Befürchtungen regten sich mit verdoppelter Macht. Mit bewußter Grausamkeit gegen Hans, dessen Frage so herzlich geklungen hatte, erwiderte sie daher leichthin:

„Gut geht es ihr, nur zu gut! Sie vergißt darüber fast ihre Heimath, ihre Eltern. Sie schreibt wenig und, wenn es geschieht, sichtlich zerstreut, mitten aus der Hochfluih des Pariser Lebens heraus. Gott, ich gönne es ihr von Herzen, sie soll ihre Jugend genießen! Aber sie wird nicht mehr zu kennen sein, wenn sie wieder kommt.“

„O, das glauben Sie gewiß nicht, Frau Kommerzienrath!“ erwiderte Hans in einem schmerzlichen Tone.

„Je nun, die Welt ist nun einmal nicht für Kinder da,“ entgegnete sie, „und Claire war ein Kind, ein rechtes Kind, das nie ernst zu nehmen war – immer seinen Einfällen folgend wie damals, als sie ein lebendiges Menschenkind, das jetzt in Gestalt eines jungen Mannes vor mir sitzt, gegen einen Automaten eintauschen wollte.“

Die Räthin sprach nachlässig, scheinbar gleichgültig mit dem Fächer spielend. Doch Hans fühlte deutlich genug die Absicht heraus, ihm den Abstand zwischen Claire und ihm zu zeigen.

„Der Automat liegt längst in der Rumpelkammer, vergessen, werthlos, ein toter Mechanismus; das Menschenkind aber lebt, fängt erst an, recht zu leben, und wird alles dran setzen, nicht auch in die Rumpelkammer geworfen zu werden,“ versetzte er. Seine Schüchternheit war verschwunden; an der Räthin war es jetzt, vor diesen flammenden Augen den Blick zu senken.

In diesem Augenblick betrat Herr Berry den Salon. Hans verneigte sich ehrfurchtsvoll und bedankte sich, noch erregt von dem Gespräch, in überstürzten Worten für seine Beförderung und Einladung.

Herr Berry betrachtete mit Wohlgefallen den jungen Mann. „Na, Emilie, was sagst Du zu unserem Schützling, sieht er nicht besser aus als mancher Kavalier?“ rief er in bester Laune. „Hast Du ihm die Grüße Claires schon ausgerichtet? Sie erkundigt sich in jedem Briefe nach Ihnen, Herr Davis.“

Hans rächte sich durch einen vielsagenden Blick auf die Kommerzienräthin, die ihren Aerger nicht verbergen konnte; ein triumphierendes, spöttisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Das Klirren von Säbeln unterbrach die für die Räthin peinliche Scene. Otto trat ein, von zwei Kameraden begleitet.

„Graf Troste“ – „Baron Sina,“ stellte er die beiden Herren seinen Eltern vor, mit Absicht Hans völlig übersehend.

„Herr Davis, Monteur in meiner Fabrik“ – übernahm in auffälliger Weise Herr Berry die Vorstellung seines Schützlings.

„Ah, Sie auch hier? Gar nicht bemerkt – pardon!“ schnarrte Otto in den eben üblichen militärischen Nasenlauten, die er bereits bewundernswerth beherrschte. Eine leise aufsteigende Röthe ließ dabei auf seiner Stirn eine kleine Narbe erscheinen, die Hans wohl kannte.

Inzwischen hatten sich die eingeladenen Beamten im Vorzimmer versammelt, und der Kommerzienrath bot seiner Frau den Arm, um die neuen Gäste zu begrüßen.

Man begab sich zu Tisch. Hans kam auf Anordnung des Herrn Berry mitten unter die Fähnriche zu sitzen, und Otto fand das so unpassend, daß er sich entschuldigen zu müssen glaubte. „Ich sagte es Euch ja voraus – sehr gute Weine, aber etwas gemischte Gesellschaft für heute,“ flüsterte er den Kameraden so laut zu, daß Hans es hören mußte.

Ein Gefühl der Verachtung stieg in diesem auf gegenüber dem feigen Benehmen des einstigen Spielgenossen, gegenüber diesen Herren, die demnach nur den guten Weinen des Herrn Berry zuliebe gekommen waren.

Das allgemeine Gespräch drehte sich anfangs selbstverständlich um geschäftliche Ereignisse. Die neuen großen Bestellungen von Lokomotiven, die der Staat für seine Bahnen in den Berryschen Werken gemacht hatte, beschäftigten die Gemüther; jeden Tag fand man Verbesserungen in der Einrichtung und Vertheilung der Arbeit, machte man neue Erfahrungen in Bezug auf Material und Bauart.

Hans hielt sich bescheiden zurück, obwohl ihm das Besprochene wohl bekannt war und er lebhaften Antheil an der ganzen Sache nahm; handelte es sich doch um seine Lieblinge, die Maschinen, deren geheimste Regungen er belauschte!

Otto unterhielt sich unterdessen angelegentlich mit den Fähnrichen über die jüngsten Vorgänge auf dem Gebiet der Kunst, des Theaters, des Rennplatzes; er sprach über alles in demselben überlegenen, halb geringschätzigen Tone, nur bei der Erörterung der Rennen erwärmte er sich etwas und nahm eine respektvolle, der „Wichtigkeit“ des Stoffes angemessene Haltung an.

Er that sich nicht wenig zu gute darauf, in diesen Dingen schon völlig bewandert zu sein, und wurde nur dann etwas in seinem Selbstgefühl gestört, wenn ihm bei einer nach seiner Meinung besonders gelungenen Behauptung sein Vater einen ironischen, fast verächtlichen Blick zuwarf, der einen schmerzlichen Ausdruck gewann, sobald er auf Hans hinüberschweifte, welcher auf einzelne Fragen des Direktors treffende, ernstes Studium verrathende Antworten gab. Es handelte sich um die überaus wichtige Verkuppelung der Triebräder, um eine Erhöhung des Adhäsionsgewichts, von welchem die Zugkraft der Maschine allein abhängig ist. Hans hatte diesem Gegenstand schon lange seine besondere Aufmerksamkeit zugewandt und war auf rein empirischem Wege zu einer neuen Idee gelangt, deren Ausführung ihm zwar noch nicht ganz klar war, die aber an sich durchaus nicht außer dem Bereich der mechanischen Möglichkeit lag. Der Direktor und Herr Berry wechselten vielsagende erstaunte Blicke und hörten den Auseinandersetzungen des jungen Mannes mit sichtlichem Eifer zu.

Da fiel der Name „Claire“ in der Unterhaltung der anderen Partei . . . Hans wurde zerstreut, verlor die Klarheit – die Triebräder und Kurbelstangen verwirrten sich plötzlich, eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_550.jpg&oldid=- (Version vom 10.8.2022)