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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

saßen sie wohl eine Stunde lang bei einander, das jubelnde Glück neben der stillen Schwermuth.

„Hast denn meine Gundi nie gesehen?“ fragte Renot.

Haymo schüttelte den Kopf.

„Weißt, zwei Jahr’ lang bin ich ihr schon um den Weg gegangen. Und da war’s jetzt in der letzten Mondzeit, da komm’ ich einmal hinauf zum Funtensee und hör’ auf den Halden das Almvieh läuten. Denk’ ich mir. jetzt muß ich doch schauen, was für eine Sennerin der Bauer geschickt hat. Ich geh’ auf die Hütten zu, und wie ich hineinschau ... was sagst? ... steht die Gundi vor mir! Vor lauter Seligkeit hab’ ich einen Luftsprung gethan, daß ich mir an der Thür das Hirnkastel angeschlagen hab’. Und Du ... ich sag’ Dir ... ein Sommer ist das jetzt, jeder Tag eine Freud’, die vom Himmel fallt. Gelt, das hast ja doch auch schon gespürt: es giebt nichts Liebers und Schöners auf der Welt, als wenn zwei junge, kreuzbrave Leut’ zusammenhalten mit Herz und Hand! Und auslassen thu ich nimmer! Und bis der Frühling wiederkommt, wird Hochzeit gehalten – Juhuuu!“

Von allen Wänden klang das Echo des hallenden Jauchzers.

Lachend schaute Renot in Haymos Gesicht; da verstummte sein Lachen und erschrocken fragte er: „Ja Bub’, was ist Dir denn? Du hast ja nasse Augen!“

Haymo sprang auf und schüttelte den Kopf; die Lippen zuckten ihm, er konnte nicht sprechen.

„So red’ doch, Bub’, red’, was hast denn?“ stotterte Renot.

Wortlos nickte Haymo einen Gruß, wandte sich ab und ging seiner Wege. Renot blickte ihm betroffen nach. „Mir scheint ... dem ist die Lieb’ überzwerch gelaufen.“

Als Haymo den Saum eines Lärchenwaldes erreichte, blieb er tief athmend stehen und wischte sich die Zähren aus den Augen. Während er weiter schritt, hörte er den am Fuß der Felswand hinsteigenden Jäger singen:

„Der Winter ist zergangen,
In Bluh steht alle Heid’,
Da kam zu mir gegangen
Gar süße Augenweid’.
Mir ward das Herzlein froh,
Zum Schätzlein sprach ich so:
Gelt, Du bist mein? Nein, ich bin Dein!
Der Streit, der muß wohl allweil sein!
 Jo ho!
 Jo ho!
So blank allsam ein Härmeletn[1]
Sind ihre beiden Aermelein.
Mein Schätzelein ist fein und schmal,
Gar wohl geschaffen überall.
 Jo ho!
 Jo ho!
Mein Herzelein ist froh!“

Lange war die jubelnde Stimme schon verhallt, doch immer noch klang es wie quälender Spott in Haymos Ohr: „Jo ho, jo ho ... mein Herzelein ist froh!“

Er hatte die Landthaler Wand erreicht, über deren schroff bis zum See abfallende Felsen ein schmaler Wildsteig hinwegführte. Einzelne Steine lösten sich unter seinen Schuhen und stürzten prasselnd in die Tiefe; mit heißen Augen blickte Haymo ihnen nach; er konnte ihre sausenden Sprünge mit den Augen verfolgen, bis sie nahe dem See auf dem schräg verlaufenden Griesbett liegen blieben.

„Da drunten findet ein jeder seine Ruh’ ... ein jeder!“ glitt es leise von seinen Lippen.

Nun löste er absichtlich Stein um Stein und lauschte, wie ihr Fall, der mit lautem Lärm begann, immer leiser und leiser wurde . . . und jeder fallende Stein redete zu ihm mit verführerischer Stimme: „Schau, so könntest Du Dein schreiendes Herzleid auch geschweigen . . . wirf’s hinunter . . . wirf’s hinunter . . . es thut keinen Laut nimmer, wenn es drunten liegt!“

Mit der Hand an einem Felszacken sich anhaltend, beugte er sich vor, daß sein ganzer Körper über dem Abgrund schwebte. Die verwitterten Schrofen, welche aus dem steilen Gewände ragten, waren anzusehen wie tausend steinerne Arme, die sich ausstreckten nach ihm. Und in der gähnenden Tiefe lag der Obersee wie ein großes rundes Auge, es blickte herauf zu ihm, und dieser Blick hatte Sprache: Ich seh’ Dich schon . . . komm’ nur . . . komm’ nur . . . schau, ich wart’!

Immer weiter beugte sich Haymo vor, ein Frösteln überlief seine Glieder, seine Knie begannen zu zittern ... an der Hand, die den Felszacken umklammert hielt, zuckten schon die Finger, als wollten sie sich öffnen ...

Da tönten weiche, schwebende Klänge durch die Lüfte empor. In der Bartholomäer Klause läutete das Glöcklein zur Frühmesse.

Haymo richtete sich erblassend auf und fuhr mit der Hand über die Stirne, wie um einen bösen Traum zu verscheuchen. Aufathmend bekreuzte er sich und stieg mit ungestümer Eile über die Wand hinweg. Es schien ihm erst wieder wohl zu sein, als er den Bergwald erreichte, um dessen Wipfel der erste Goldglanz der steigenden Sonne schimmerte.

Schon aus weiter Ferne hörte er das Gebrüll des Almviehs.

Was die Rinder nur haben mögen? fragte er sich. Vielleicht missen sie die Sennerin! Sie wird wohl tags zuvor hinuntergegangen sein in das Klosterdorf, um dem heiligen Umgang beizuwohnen. Aber das hätte sie doch dem Hüter sagen müssen und wohl an die hundert Male hatte Haymo am vergangenen Tag, bald im Gewänd, bald auf den Almen, bald im Bergwald, den Hüter schreien hören: „Zenzaaah . . . Zenzaaah . . . hoidoooh!“

Als Haymo die Alm erreichte, sah er die Kühe unruhig um die stille Hütte traben, brüllend und mit den Schweifen schlagend. Ihre Euter strotzten ... sie hatten das Milchbrennen. Langsam kamen ihm, da er sich der Hütte näherte, die Thiere entgegen, streckten keuchend die Köpfe, und eine Blässin fuhr ihm mit der rauhen Zunge über die Hand. Er kraute ihr die Stirn, und mit läutender Glocke lief sie ihm nach bis zur Hütte. Er trat in die Thür. Die Hütte war leer. „Zenza!“ rief er . . . aber keine Antwort kam. Er lehnte das Griesbeil an die Wand, legte die Armbrust ab und setzte sich auf den Herdrand. In der Asche lagen noch glimmende Kohlen; er stöberte sie zu einem Häuflein zusammen, legte Spähne darüber und blies in die Gluth. Ein Flämmlein züngelte über das Holz, die Spähne knisterten und krachten, und als das Feuer wuchs, legte er, in träumende Gedanken versunken, Scheit um Scheit in die Flammen.

Er hörte nicht mehr das Brüllen und Läuten der Kühe ... immer, immer summte es in seinen Ohren: „Jo ho, jo ho ... mein Herzelein ist froh!“

Weit da drüben, in der Sennhütte am Funtensee, flammte jetzt wohl auch ein Feuer auf dem Herde . . . und Renot saß bei seiner Gundi und hielt sie umschlungen und zog sie an seine Brust und lachte. „So blank, allsam ein Härmelein . . . sind Deine weißen Aermelein . . .“

Haymo schlug die Hände vor die Augen, als könnte er das Bild verscheuchen, das mit seinem jauchzenden Glück ihn quälte und verhöhnte, ihn und sein brennendes Leid, seine dürstende Sehnsucht . . .

Ganz in sich verloren saß er und hörte nicht, wie draußen alle die Kühe läutend zusammendrängten nach einer Stelle . . . er merkte nicht, daß ihr Brüllen jählings verstummte ... er hörte die raschen Schritte nicht, die sich der Hütte näherten . . . es war ihm nur, als hätte sich mit einem Mal die Thür verfinstert. Mit müden Augen blickte er auf, aber da traf es ihn wie ein Blitz. Er schnellte in die Höhe, streckte mit ersticktem Laut die Arme . . . und stand nun wieder wie versteinert. War es denn Wirklichkeit oder nur ein Traum? War sie es denn wahrhaftig, die da vor ihm unter der Thür stand . . . über und über mit Staub bedeckt, im weißen Röcklein, dessen zerfetzter Saum über die Knöchel der nackten, vom Gestrüpp zerkratzten Füße hing, ein weißes Mäntelein um die schmalen Schultern, die gelösten Haare um den Hals geknotet, mit erschöpften Zügen, aber mit lachendem Mund und leuchtenden Augen?

Jetzt rührte sie die Lippen. „Haymo!“ stammelte sie.

„Gittli!“ schrie er jauchzend auf, und sie flogen sich entgegen, hingen Lippe an Lippe und hielten sich mit zitternden Armen umschlungen, fest, fest, als wollten sie sich nimmer lassen.

„Haymo!“

„Gittli!“

Das war alles, was sie sprachen zwischen Küssen und Küssen.

Und als wäre das Glück über sie hergefallen, so groß und so erdrückend, daß sie es nicht mehr zu tragen vermochten auf ihren schwachen Schultern, so sanken sie auf den Herdrand nieder ... und da streichelte Gittli unter rinnenden Thränen Haymos Gesicht mit beiden Händen und lispelte:

„Gelt? Jetzt thust mir aber nimmer sterben?“

  1. Wie ein Wiesel.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_539.jpg&oldid=- (Version vom 7.11.2022)