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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

in Halbheft 12 dieses Jahrgangs). Diesen Uebelständen wird begegnet werden können einmal durch die Errichtung von Lehrlingsheimen, welche für die im Alter von 14 bis 17 Jahren stehenden jugendlichen Arbeiter und Lehrlinge bestimmt und dementsprechend einzurichten sind, dann aber durch Erbauung von Wohn- und Kosthäusern, „Heimen“ für die jenem Alter entwachsenen ledigen Arbeiter. Die Anstalten ersterer Art lassen wir für heute außer Betracht. Vielleicht kommen wir später einmal auf sie zurück.

Es ist ja nicht zu leugnen, daß menschenfreundliche Arbeitgeber schon mancherlei gethan haben, um die traurigen Wohnverhältnisse ihrer ledigen Arbeiter zu bessern. Aber ebenso sicher ist, daß eine sehr große Anzahl dies bis jetzt unterlassen hat, und daß insbesondere in den Großstädten nach dieser Richtung hin so gut wie nichts geschehen ist. Die kleineren Unternehmer sind meist nicht imstande, aus eigenen Kräften eine Besserung herbeizuführen. Es bleibt sonach nur die Gesellschaft übrig, die, vielleicht mit Beihilfe der Gemeinden oder des Staates, die vorhandenen Uebelstände zu beseitigen vermag und zu beseitigen auch die Pflicht hat. Leider hat auch diese sich bis jetzt sehr lässig gezeigt und nur in ganz vereinzelten Fällen die Wohnungsnoth der Arbeiter ledigen Standes durch die Errichtung von Arbeiterheimen zu lindern versucht.

Wir berichten im folgenden über zwei derartige Anstalten, deren Begründung dem Eintreten der Gesellschaft verdankt wird, über die Arbeiterheime zu Halle und Stuttgart.

Das Arbeiterheim zu Halle wurde in Verbindung mit einen Volks-Speisehaus – beide unter dem Namen „Volks-Speise- und Logierhaus" – auf Veranlassung des Halleschen Vereins für Volkswohl errichtet und im Mai 1890 dem Verkehr übergeben. Es befindet sich in einem mit Ausschluß des Erdgeschosses ermietheten, sehr zweckentsprechend gelegenen Hause, das im ersten Stockwerk Speiseräume für 250 bis 300 Gäste und einem Lesesaal für etwa 100 Personen, im zweiten, dritten und vierten Stocke von je 33 Fenstern Front Schlafzimmer mit 1, 2 und 4, theilweise auch noch mehr Betten enthält. Die innere Einrichtung und Ausstattung des Hauses ist behaglich und zweckmäßig, der Bau selbst entspricht in allen seinen Einzelheiten den strengsten hygieinischen Anforderungen und läßt namentlich dem Lichte und der Luft den freiesten Zutritt.

In dem Logierhaus, das nur in den Stunden von 12 Uhr nachts bis 5 Uhr morgens geschlossen bleibt, beträgt das im voraus zu zahlende Miethgeld in der Woche für eine Schlafstelle in einem Schlafraum mit

mehr als 4 Betten (20 cbm Luftraum für eine Person) 1,00 Mark
mehr mit 4 Betten im 4. Geschoß raum eine Person) 1,25 Mark
mehr mit 4 Betten im 3. Geschoß raum eine Person) 1,50 Mark
mehr mit 4 Betten im 2. Geschoß raum eine Person) 1,75 Mark
mehr mit 2 Betten im 4. Geschoß raum eine Person) 1,50 Mark
mehr mit 2 Betten im 3. Geschoß raum eine Person) 1,75 Mark
mehr mit 2 Betten im 2. Geschoß raum eine Person) 2,00 Mark
für ein möbliertes Zimmer mit 1 Bette im 3. Geschoß 2,25 Mark
für ein möbliertes Zimmer mit 1 Bette im 2. Geschoß 2,50 Mark

Auf einzelne Tage werden die Plätze nicht abgegeben, vielmehr beträgt die kürzeste Dauer des Miethsverhältnisses immer eine volle Woche.

Nicht minder billig als die Wohnung ist die Kost in dem Speisehaus, welches der „Verein für Volkswohl“ unter Leitung einer bewährten Kraft in eigener Verwaltung führt. Eine einfache, aber kräftige Mittagsmahlzeit ist schon für 25 Pfennig, eine kleinere Portion sogar für 15 Pfennig zu haben; Abendbrot, kalt oder warm, wird um 15 Pfennig berechnet, und Lagerbier zum Preise von 10 Pfennig für 4/10 Liter ausgeschenkt.

Ein Arbeiter also, welcher hier täglich 30 Pfennig für Frühstück und Abendbrot, 25 Pfennig für den Mittagstisch und 20 Pfennig für Bier ausgiebt, braucht in der Woche für seine ausreichende Verköstigung 5 Mark 25 Pfennig. Rechnet man 1 Mark 75 Pfennig Miethpreis für ein besseres Zimmer hinzu, so macht das eine Gesammtausgabe von 7 Mark wöchentlich. Da nun selbst niedrig bezahlte Arbeiter in Halle selten unter 15 Mark die Woche verdienen, so ergiebt sich, welche Vortheile das Volks-Speise- und Logierhaus der arbeitenden Bevölkerung bietet. Die Gelegenheit und die Möglichkeit zum Sparen wird aber gerade für die ledigen Arbeiter von ganz besonderem Werthe sein.

Das Arbeiterheim zu Stuttgart ist von dem dortigen „Arbeiterbildungsverein“ in Verbindung mit dem „Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen“ ins Leben gerufen und Ende November eröffnet worden. Der stattliche, architektonisch äußerst wirksame Bau umfaßt im ganzen 225 Räume und besteht aus zwei Theilen, deren einer die Arbeiterwohnungen, der andere die Wirthschaftsräume, Bibliothek, Lese- und Unterrichtszimmer sowie einen größeren, für Versammlungen und Festlichkeiten des Arbeiterbildungsvereins bestimmten Saal enthält. Gegen 125 Zimmer zu 1 und 2 Betten dienen den ledigen Arbeitern zu Wohnstätten. Der Miethpreis schwankt zwischen 1 Mark 20 Pfennig und 2 Mark 50 Pfennig für die Woche, bei wöchentlicher Kündigung; Passanten, d. h. solche, die am Orte noch keine bestimmte Arbeit gefunden und daher noch keinen dauernden Aufenthalt genommen haben, zahlen, soweit sie Platz finden, für die Nacht 30 Pfennig.

Die Einrichtung der Wohnzimmer ist sehr behaglich und besteht aus der mit einer guten Matratze versehenen Bettstelle, ferner aus Kleiderschrank, Waschtisch, Tisch, Stuhl und Spiegel, in den besseren und theureren Zimmern tritt als weiteres Möbel ein Kanapee hinzu, im 2. Stockwerk endlich wird die Annehmlichkeit gesunden Wohnens noch durch einen Balkon mit freier, hübscher Aussicht über die Stadt erhöht. Der Heizungs- und Beleuchtungsbedarf wird den Miethern von der Heimverwaltung äußerst billig berechnet. Nicht minder billig und gut ist die Kost; denn eine aus Suppe, Fleisch und Gemüse bestehende Mahlzeit ist schon für 25 Pfennig zu haben, während man den Luxus dreier Gänge sich für den Preis von 45 Pfennig verschaffen kann.

Daß das Stuttgarter und das Hallesche Arbeiterheim dazu beigetragen haben, gewisse Nothstände, die in beiden Städten herrschten, wenigstens zu mildern, darf mit Bestimmtheit behauptet werden; daß sie auch weiterhin in gesundheitlicher wie sittlicher Beziehung einen vortheilhaften Einfluß ausüben werden, läßt sich annehmen. Aber nichtsdestoweniger gleicht all’ das nur einem Tropfen auf einen heißen Stein. Soll eine allgemeine und anhaltende Besserung erzielt werden, so ist es einerseits nöthig, daß an allen Orten mit einer zahlreichen industriellen Bevölkerung in hinreichendem Maße und in zweckentsprechender Weise für den Bau von Arbeiterheimen, sei es durch die Arbeitgeber, sei es durch gemeinnützige Vereine etc., Sorge getragen wird; andererseits ist zu verlangen, daß der Staat und die Gemeinden solche Bestrebungen in wirksamer Weise unterstützen.

Für wünschenswerth würden wir halten, daß man die Arbeiterheime in Verbindung mit Volksheimen oder im Anschluß an solche errichten möchte. Geschähe das, so wären weitere Anknüpfungspunkte für einen zwanglosen geselligen Verkehr und Gedankenaustausch zwischen den Angehörigen der verschiedenen Stände geschaffen und infolge dessen die Möglichkeit eines Ausgleiches der ungesunden gesellschaftlichen Gegensätze gegeben. Auf einen solchen Ausgleich mit allen Kräften hinzuarbeiten, ist eine der vornehmsten sittlichen Pflichten des lebenden Geschlechts.

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Blätter und Blüthen.


Bismarck in München. (Zu den Bildern S. 488 und S. 489.) Ein Wiederaufleben der Begeisterung vom Jahre 1870, ein hohes Aufflammen des Patriotismus in den Herzen der Jugend, ein tausendstimmiger Dank- und Ehrenruf fär den Mitbegründer des Deutschen Reiches, auch von seiten solcher, die in Fragen der inneren Politik nicht immer mit ihm einig gewesen – das waren die jüngstvergangenen Bismarcktage in München.

Viele Tausende drängte es, dem großen aus Amt und Würden Geschiedenen zuzurufen: Dein Volk ist nicht undankbar, du lebst auf ewig in unseren Herzen! Und die Hoffnung, daß der Widerhall dieses Rufes manche Bitterkeit in dem seinigen sänftigen dürfte, trieb zu Kundgebungen, wie sie gewaltiger und rührender dem Fürsten kaum irgendwo dargebracht wurden.

Auch bekam München nicht den „eisernen Kanzler“ zu sehen, sondern einen mildgewordenen Mann, der nur die ehrfurchtgebietende Ruhe des Alters, aber keine seiner Hinfälligkeiten zeigt. Stramm bewegte sich die hohe Gestalt ohne Zeichen von Ermüdung noch am letzten Abend dieser vielbesetzten Tage, aufs liebenswürdigfte dankte der Fürst wieder und wieder für den stets neu aufbrausenden Jubelruf um seinen Wagen, wenn er die Villa Lenbach verließ, vor welcher den ganzen Tag Hunderte gedrängt standen. Die Münchener haben ihn auch östers sprechen hören: im Glaspalast, im Rathhaus und bei den großen Ovationen, am heitersten wohl der Kreis seiner Verehrer in der Künstlergesellschaft „Allotria“, wo er, von Lenbach geleitet, Sonnabend den 24. Juni eintrat und einen Ehrentrunk aus der großen, vom Willkomm im Jahre 1886 her benannten „Bismarckkanne“ thun mußte. Indem der Fürst sich entschuldigte, es nicht jenem Bürgermeister von Rothenburg nachmachen zu können, der durch das Leeren einer solchen Kanne die Stadt rettete, that er doch einen herzhaften Zug und sprach dann seinen Dank für den festlichen Empfang aus, mit der humoristischen Wendung schließend:

„Wir haben im Norden auch ein Bier, es ist zwar naß, aber nicht das! Ich trinke auf das Wohl des Vereins, Sie müssen aber mit einstimmen, sonst ist mein Hoch zu dünn!“ Wie daraufhin eingestimmt wurde, kann man sich wohl leicht vorstellen.

Abends aber, als Musik und Trommelschlag von den Propyläen her erklang und in ungeheurem Zuge die männliche Jugend von München, Schüler, Studenten, Künstler, Sänger, Turner, Schützen und Vereine aller Art, Standarten und Kränze tragend, vor der weit herausspringenden Gartenterrasse des Lenbachhauses vorbeidefilierte, während auf dieser hochaufgerichtet die mächtige Greisengestalt stand und auf den unermeßlichen Jubel herabschaute, da hatte jeder aus der dichtgedrängten Zuschauermenge das Gefühl eines unvergeßlichen geschichtlichen Momentes.

Nachdem dann Lieder und Ansprachen verklungen waren, trat Bismarck zum Reden vor; in die plötzlich eingetretene athemlose Stille hinein erschallte seine Stimme, und in beweglichen Worten legte er der Jugend die Treue gegen das große Vaterland ans Herz. Aus allen seinen Münchener Reden war in immer neuer Wendung die gleiche Mahnung zu hören; am feierlichsten erklang sie aber an diesem Abend, und in Tausenden von jungen Herzen fand sie einen Widerhall, der so lange dauern wird, als diese selbst schlagen. Es lag wie eine große Weihe auf der vieltausendköpfigen Versammlung, jeder mochte die Bedeutung dieser Stunde fühlen; denn nachdem Bismarck geendet, brach ein Jubel aus, der alles Frühere weit überbot, die Fahnen wehten, Blumen wurden zu ihm emporgeworfen. Die allgemeine Begeisterung kannte keine Grenzen und beruhigte sich erst, als der Fürst und seine Umgebung die Terrasse schon lange verlassen hatten. R. A. 

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_512.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2024)