Seite:Die Gartenlaube (1892) 507.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Quälende Bilder stiegen vor ihren Augen auf, und aus jedem dieser Bilder schrie ihr eine jammernde Stimme zu: „Der Haymo stirbt! Der Haymo stirbt!“

Fröhlicher Lärm unterbrach sie in ihren martervollen Gedanken. Etwa zwanzig Mädchen stürmten in den großen Schlafsaal, um die Kleider zu wechseln und sich vom Straßenstaub zu reinigen. Rings an den Wänden standen die weißen Betten, jedes neben einem schmalen Schrein; die freie Mitte des Saales nahm der riesige Waschtisch ein, dessen Innenraum, einem gewaltigen flachen Trichter gleichend, mit blankem Kupfer ausgeschlagen war; rings auf dem breiten Rande war für jedes Mädchen ein Krüglein mit Wasser in Bereitschaft gestellt. Das gab nun ein lieblich heiteres Bild, wie sich all die Mädchen um den Waschtisch drängten, mit gelösten Haaren, im kurzen Unterkleid, mit nackten Armen und Schultern, plaudernd und kreischend, lachend und kichernd mit dem Wasser spritzend und plätschernd, die Augen leuchtend, die Wangen brennend ... Und daneben Gittli in den Kissen, stumm und bleich, verzehrende Angst in jedem Blick, in jedem Herzschlag zitternde Furcht und heiße Sehnsucht ...

Den ganzen Tag über blieb Gittli kaum ein Viertelstündchen allein; sie hatte ja so viele Freundinnen, als das Heim der Domfrauen junge Mädchen barg. Zu Anfang wohl hatten all’ diese anderen das scheue, unbeholfene Ding mißachtet, verspottet und gehänselt wegen seiner bäurischen Sprache, wegen seines furchtsamen Wesens und seiner ewigen Thränen. Aber das Geheimniß, das um die kleine „Brigitte von Dorfen“ gebreitet schien, reizte die Neugier, ihre stille, träumerische Schwermuth weckte das Mitleid, und schließlich bezwang Gittlis natürlicher Liebreiz auch das widerspenstigste dieser jungen Mädchenherzen. Allein sie nahm diese zärtlichen Freundschaften hin wie etwas Aufgezwungenes; sie lebte nur in sich selbst, und so war ihr alles, was sie hier umgab, an diesem letzten Tage noch so fremd und bedrückeud, wie es ihr am ersten Tag gewesen. Sie kam sich vor wie in einem Fastnachtsspiel, darin man ihr die Rolle der verwunschenen Prinzessin wider Willen aufgenöthigt hatte. Und wenn sie jetzt um Haymos willen in Angst und Bangen der Stunde entgegensah, welche ihre Flucht ermöglichen würde, so mischte sich in ihre beklemmende Marter doch auch ein Aufathmen, ein tröstendes Vorgefühl ihrer Erlösung aus diesen schrecklichen Mauern.

Als es zu dämmern begann, blieb Gittli, während im Refektorium die Abendmahlzeit gehalten wurde, eine halbe Stunde allein. Zitternd erhob sie sich und zog das Gewand an, welches neben dem Bette noch auf dem Sessel lag: das weiße, ausgeschnittene Schleppkleid und die gelben Schnabelschuhe. Ein Mäntelein, welches sie aus dem Schrein hervorholte, versteckte sie unter dem Kissen. So völlig angekleidet, legte sie sich wieder nieder.

Jetzt kamen Minuten quälender Angst; denn kaum hatte sie die Decke bis an das Kinn gezogen, da brachte ihr eine dienende Schwester das Abendessen. Zuerst stellte sie sich schlafend; und als sie geweckt wurde, betheuerte sie unter Stammeln und Thränen, daß sie nicht „ein lützel“ Hunger hätte ... denn um zu essen, hätte sie sich aufrichten und dabei verrathen müssen, daß sie angekleidet im Bette lag. Die Schwester ging, aber gleich wieder kam eine neue Gefahr: die Frau Oberin erschien, um sich nach Gittlis Befinden zu erkundigen.

„Dank der Nachfrag’, ehrwürdige Mutter,“ stotterte das Mädchen, „mir ist schon völlig wieder gut. Aber schläfrig bin ich halt ... so viel gern schlafen möcht’ ich!“

„So schlaf, mein Kind! Aber mummel’ Dich nicht so in die Decke; da muß Dir ja heiß werden, und dann wirst Du Dich in der Nacht erkälten!“

„Wenn mich aber so viel frieren thut!“ stammelte Gittli mit versagender Stimme und hielt die Decke krampfhaft fest.

„Frieren, Kind? Du wirst doch kein Fieber haben?“ sagte die Oberin ganz erschreckt. „Komm’, gieb Deine Hand her, ich will den Puls fühlen.“

Ein ganz klein wenig schob Gittli die zitternde Hand unter der Decke hervor.

„Ach Du armes Kind! Dein Händchen glüht ja wie Feuer, und Dein Puls fliegt ...“ Die Oberin eilte zur Thür und zog an einer Schellenschnur. Die dienende Schwester, welche auf dieses Zeichen erschien, wurde um eine fieberstillende Arznei geschickt. Und wie sich Gittli auch wehrte und sträubte ... sie mußte schlucken. Ein naßkaltes Tuch wurde ihr um die Stirn gebunden ... aber das „Fieber“ wollte nicht weichen, die Gluth ihrer zitternden Hände nicht verschwinden.

Die Oberin schickte die dienende Schwester um Essig fort und richtete an Gittli eine besorgte Frage um die andere. In der quälenden Angst vor der drohenden Entdeckung verwirrten sich die Antworten des Mädchens immer mehr, so daß es wahrhaftig den Anschein gewann, als spreche aus ihr das sinnverwirrende Fieber.

„Kind, Kind! Du wirst mir doch nicht ernstlich erkranken!“ jammerte die Oberin. „Gieb die Decke weg, ich höre die Schwester schon kommen, wir müssen Dich mit Essig waschen.“

Gittli schluchzte und bettelte ... aber es half ihr nichts ... die Oberin löste ihr die Hände und nahm die Decke fort. Trotz der tiefen Dämmerung, welche schon in dem Raum herrschte, erkannte die Oberin sofort, daß das Mädchen völlig gewandet mit den Schuhen im Bette lag.

„Brigitte! Was soll das heißen?“

Gittli hatte sich aufgerichtet, die Füße unter das Kleid gezogen und hielt die zitternden Arme über der Brust verschlungen, mit starren Augen zur Oberin aufblickend.

Da half keine Ausrede mehr; nun mußte man ihre Absicht durchschauen, man würde ihre Flucht verhindern ... und „der Haymo stirbt, der Haymo stirbt!“

Sie mußte fort, jetzt, gleich auf der Stelle, und wenn es ihr Leben galt! Sie sprang aus dem Bett, riß mit jähem Ruck das Mäntelein unter dem Kissen hervor, warf es um die Schultern und stürzte der Thür zu, als eben die Schwester mit der Essigschüssel eintreten wollte. Ein Schrei, ein Klatsch auf den Dielen, und vorüber an der taumelnden Nonne, welche die Schüssel hatte fallen lassen, rannte Gittli in den dunklen Säulegang hinaus. Hinter ihr her die beiden Frauen mit lautem Geschrei. Im Spielsaal verstummte der fröhliche Lärm, die Thür wurde aufgerissen, und mit erschreckten Gesichtern kamen die Mädchen herbeigelaufen.

„Was giebt es? Was ist geschehen?“ So rief es mit zwanzig Stimmen durcheinander.

Die beiden Nonnen konnten sich dem Ring, der sich um sie gebildet hatte, kaum entwinden ... Gittli gewann einen weiten Vorsprung, verschwand um die Ecke des Ganges, und während hinter ihr der Lärm der Stimmen verhallte, rannte sie Treppen auf und ab, durch dunkle Korridore, bis sie die Klosterkirche erreichte.

Sie öffnete die eiserne Thür, welche laut in ihren Angeln kreischte. Ein Schauer faßte ihr Herz, als sie zwischen den Säulen der Krypta den fahlen Schein des ewigen Lichtes zittern sah; ein stammelndes Gebet auf den Lippen, eilte sie der finsteren Thurmhöhle zu und hastete über die steile Treppe hinauf, bis sie das erste unvergitterte Fenster erreichte. Es lag über der Erde fast so hoch wie der Giebel an ihres Bruders Haus. Sie zögerte ... „Der Haymo stirbt!“ schrie es in ihr ... und da sprang sie. Der harte Sturz betäubte sie fast, aber nur einen Augenblick währte ihr Taumeln, dann rannte sie an der öden Mauer entlang und schrie mit gellender Stimme. „Zenza! Zenza!“

Wie ein Wiesel kam das Mädchen herbeigeschossen. „Bist endlich da! Ich hab’ mir ja die Seel’ schier herausgewartet.“

„Fort, fort, Zenza,“ stieß Gittli mit erlöschender Stimme aus keuchender Brust hervor, „oder sie kommen und holen mich wieder!“

Zenza faßte die Wankende am Arm und riß sie mit sich fort. Sie erreichten das Nonnthaler Thor und huschten hinaus, gerade bevor es geschlosen werden sollte.

Als sie aus dem dunklen Schatten der die Straße einfassenden Bäume hinausgelangten auf das offene Grödiger Moos, blieb Gittli stehen. „Ich kann nimmer laufen, das dumme Gewand kommt mir allweil unter die Füß’.“

„Ja,“ spottete Zenza, „fein hat man Dich aufgeputzt, das muß ich schon sagen! Wie ein Heiligenbild in der Kirch!“

„Gelt?“ jammerte Gittli, faßte das Kleid, riß um den ganzen Saum herum eine handbreite Borte mitsammt der Schleppe weg und warf sie in den Straßengraben.

Dann fingen sie wieder zu laufen an. Und im Laufen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 507. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_507.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2021)