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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Der schwermüthige Skomentnersee, an dessen flachen Ufern sich der einsame Kegel der Biala Gora mit den Resten der sagenhaften Skomandburg erhebt, die von schweigenden Kiefernwäldern umrahmten, terrassenförmig sich folgenden Selmentseen, der lieblich gelegene Schwentainersee mit dem wie ein Schwalbennest am steilragenden Ufer hingeklebten Dorfkirchlein, der langgestreckte Laszmiaden-, der blaue Muckersee, und wie sie sonst noch heißen mögen – an ihren Ufern giebt’s manch weltverlorenen Platz, wo sich’s gut träumen läßt unter dem heimlichen Rauschen der Kiefernwipfel, indeß der Wind im raschelnden Schilfe seine alten Märchen raunt und die blauen Wellen leise schwatzend auf dem hellen Ufersand ihr nimmer endendes Spiel treiben. Und erst der gewaltige Spirdingsee, das masurische Meer! Ob auf seiner weiten Fläche sich die Sommersonne gleißend spiegelt, die dampfenden Herbstnebel brauen, ob er vom Sturme gepeitscht die schaumgekrönten [Well]en langausrollend durch das dichte Geröhricht zum Ufer wälzt [od]er in Frühjahrsnächten unter Brüllen und Tosen d[ie] [F]esseln des Winters sprengt: stets trägt sein Bild den Stempel [d]er majestätischen, überwältigenden Größe.

Der landschaftliche Reiz, das ist nun aber auch so ziemlich der ganze Reichthum des Masurenlandes. Es geht ihm wie dem Mädchen in dem Liede, von dem der Bursche singt:

„Schön bist du, Herzallerliebste,
Wie die Blum’ im Wiesenlande.
Aber arm bist du, mein Mädchen,
Wie der Stein am Wegesrande."

Masuren ist ein wenig ergiebiges Land. Sein Boden liefert nur mäßigen Ertrag, und die angebauten Strecken werden reichlich aufgewogen durch das unfruchtbare Heidenland, auf dem nichts weiter gedeiht als die Krüppelkiefer und der Wachholderstrauch.

Mit dieser Kärglichkeit des Bodens geht freilich eine fast beispiellose Bedürfnißlosigkeit der Bewohner Hand in Hand. Der masurische Bauer bescheidet sich zufrieden mit dem mäßigen Ertrag seines Grundstückes. Denselben durch eine rationellere Bewirthschaftung zu verbessern, wie es seine deutschen Dorfnachbarn thun, kommt ihm nicht in den Sinn. Er bebaut seinen Acker, wie er’s vom Vater und Großvater gelernt hat, der liebe Gott wird dann schon wachsen lassen. Und wenn der Himmel einmal nicht gnädig ist, die Ernte mißräth, so ist dabei eben nichts zu machen. Das Mittelfeld unseres Bildes giebt eine Anschauung von einem masurischen Anwesen: das niedrige Holzhaus und die Wirthschaftsgebäude strohgedeckt, ein schlecht gepflegter Garten mit Küchenpflanzen und ein paar verkümmerten Nelken und Resedastöcken, daneben in einiger Entfernung der altväterische Ziehbrunnen, der das Wasserholen zu einer beschwerlichen Arbeit macht. Nichts eintöniger und trostloser als der Anblick eines masurischen Dorfes! Wie zerlumpte Bettler stehen die niedrigen Hütten mit ihren verwitterten Holzwänden, den windverzausten grauen Strohdächern und den grün angelaufenen blöden Fensterscheiben zu beiden Seiten der Straße.

Das Innere dieser Hütten entspricht durchans dem Aeußeren. Schmucklos, oft mit ungetünchten Wänden und ungedieltem Fußboden, enthält es meistens nur den nothdürftigsten Hausrath – einen Tisch, ein paar Bänke und Stühle, einen in die Wand eingelassenen Herd; in den Häusern der wohlhabenderen Bauern wohl auch einen Sims an den Deckbalken mit aufgestellten Thonkrügen und Porzellantellern, an den Wänden ein paar grellbunte Bilder oder einen aus dem Kalender stammenden Holzschnit.

Von der Bescheidenheit der Lebensansprüche, die unter der breiten Masse der masurischen Bevölkerung, unter den Tagelöhnern, Waldarbeitern und Fischern herrscht, kann man sich im Westen Deutschlands schwerlich eine Vorstellung machen. Der Verdienst dieser Leute, nach Mark und Pfennigen gerechnet, ist ein so gerinfügiger, daß es schier unmöglich scheint, damit eine oft zahlreiche Familie zu ernähren. Es wird nur erklärlich durch das Stück Diogenesnatur, das in dem masurischen Volkscharakter steckt, das freilich mit Stumpfheit und Trägheit nahe genug verwandt ist.

Ein Stück Brot, ein bißchen Speck zum Schmälzen der Suppe, ein Gericht Fische, ab und zu ein Stück Fleisch, reichlich Kartoffeln und Schnaps, mehr braucht es nicht, um den Masuren zufrieden zu machen. Der Schnaps freilich gehört leider dazu. ihn glaubt er so nöthig zu haben wie die Luft zum Athmen. Der Schnaps ist sein Tröster, wenn er traurig ist, er stärkt ihn bei der Arbeit, wärmt ihn in der Kühle und kühlt ihn in der heißen Sommerzeit, er ist mit seinem ganzen Lebensgang aufs innigste verwachsen. Die Mutter, die sich durch ein Gläschen erquickt, verfehlt nicht, dem Kinde auf ihrem Schoße das Restchen mit dem Finger auf die Lippen zu wischen und dem Sterbenden wird die letzte Medizin – gewöhnlich der in jedem Bauernhaus anzutreffende „Pain-Expeller" – in einem Glase gewärmten Branntweins gereicht.

Eines Tages – es war um die Weihnachtszeit – begegnete ich der Frau unseres Holzhauermeisters auf dem Wege zur Stadt. „Nun, Michalska, woher des Weges?“ fragte ich.

„Aus der Stadt, junger Herr, ich habe eingekauft für die Feiertage. Zwei Pfündchen Mehl, ein Stückchen Fleisch und vier Stof Spiritus.“

Vier Stof Spiritus geben mit Wasser verdünnt etwas mehr als acht Liter Schnaps; daraus können Volkswirthschaftler – freilich unter Berücksichtigung der gehobenen Feiertagsstimmung – ungefähr das Verhältniß berechnen, in welchem der Branntweinverbrauch zu dem der übrigen Nahrungsmittel steht. Wer jedoch daraufhin die Leute des Alkoholismus zeihen wollte, würde sich eines bitteren Unrechts schuldig machen. Der Schnaps ist ihnen – leider – mehr ein nothwendiges Nahrungsmittel als ein Genußmittel. Und daß dem so ist, daran tragen diese armen Stiefkinder des Daseins nicht allein die Schuld.

Eine nicht minder große Rolle in dem Leben der masurischen Bevölkerung spielt das Wasser, freilich nicht als Getränk. Fast jeder männliche Bewohner der zahlreichen Seedörfer ist auch ein leidenschaftlicher Fischer, gleichgültig, ob er dazu berechtigt ist oder nicht. Die Frage der Berechtigung ist dabei eine sehr wichtige, denn fast alle Gewässer sind fiskalischer Besitz und verpachtet. Nur vereinzelt haben die grundbesitzenden Seeanwohner das noch dazu durch allerhand Klauseln beschränkte Recht, für ihren Hausbedarf mit kleinem Gezeuge, d. h. mit Angel und Verstelluetz, zu fischen. Der Masure sieht darin jedoch eine Beschränkung seiner natürlichen Menschenrechte. Es will ihm nicht in den harten Kopf, daß er auf das Wasser und ebenso auf den Wald, die beide doch ebenso ein von Anbeginn der Welt allen Menschen gegebenes Gottesgeschenk seien wie die freie Luft, kein Anrecht haben solle. Darum sieht derselbe Mann, dem es nicht einfallen würde, sich am privaten Eigenthum eines anderen zu vergreifen, in der Ausübung der Fischerei oder in dem Aneignen einer Last Brennholz kein Vergehen. Beides ist verboten, dagegen ist nun einmal nichts zu machen, und wenn er dabei erwischt wird, dann muß er Buße zahlen, Strafarbeit leisten oder auch ins Gefängniß wandern, je nach der Größe des „Objekts"; aber eine „Sünde“ kann er trotzdem nicht darin finden.

Daß in dieser „Beschränkung seiner Menschenrechte" eine weise Maßregel liegt, daß ohne dieselbe in Bälde in den masurischen Seen kein Fisch mehr schwimmen, in den Forsten kein Baum mehr stehen würde, das sagt er sich nicht, soweit denkt der Masure überhaupt nicht.

In den königlichen Forsten ist nun die Bethätigung solcher kommunistischen Ideen schon wegen der zahlreichen Aufsichtsbeamten eine erheblich schwierigere als auf dem Wasser. Die den einzelnen Fischereiaufsehern unterstellten Bezirke sind zu groß, als daß in ihnen eine erfolgreiche Ueberwachung durchgeführt werden könnte, und dann liegt es in der Natur der Sache, daß Fischdiebstähle schwerer zu entdecken sind als Holzdiedstähle. Der „Ofzér“, so hat der Masure sich das Wort Ausseher mundgerecht gemacht, „kann zu gleicher Zeit nicht auf drei Hochzeiten sein“ – das masurische Sprichwort lautet etwas derber – „und ebensowenig kann er die Fische im Wasser zählen.“ So blüht denn die Raubfischerei in allen Seedörfern, am meisten in der Regel dort, wo der Aufsichtsbeamte seinen Wohnsitz hat, und trägt einen Theil der Schuld an dem Rückgang des einst so reichen Fischbestandes der masurischen Gewässer. Das gegenwärtige Verpachtungssystem und die theilweise Aufhebung der strengen Schonzeit thun das übrige, so daß die masurische Fischerei schon längst abgewirthschaftet hätte, wenn nicht der ostpreußische Fischereiverein durch das Anlegen von Schonrevieren und Aussetzen von Fischbrut der gänzlichen Erschöpfung der Gewässer einen Riegel vorschieben würde.

Die Art und Weise der Fischerei ist unter den drei Generalpächtern, welche bis jetzt dieses ausgedehnte und gewinnbringende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_498.jpg&oldid=- (Version vom 7.7.2022)