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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Vision sowie anderer an ihrer Person zu Tage tretender, auf eine göttliche Mission hinweisender Erscheinungen gelungen, ihren gläubigen Mitmenschen, die hier bezeichnenderweise sämmtlich dem weiblichen Geschlecht angehörten, in nur sechsjähriger Wunderthätigkeit die Kleinigkeit von etwa 150 000 Mark zu entlocken. Sie verwendete dieselben größtentheils zum Baue eines prachtvollen Waisenhauses in Büdingen, der ihr, wie sie behauptete, von der Mutter Gottes aufgetragen war. Wir wollen auch diesen Fall, der trotz der entschieden ablehnenden Haltung, welche die Geistlichkeit zu den angeblichen Wundern der Beklagten einnahm, trotz der zum Theile nachgewiesenen offenkundigen Täuschungen, deren sich die Filljung bediente, mit einer Freisprechung endete, nur flüchtig berühren und uns die nähere Schilderung der vermeintlichen Wunder für einen ähnlichen zweiten Fall aufsparen. Zuvor aber sei hier auf die gemeinsame pathologische Ursache dieser und ähnlicher Erscheinungen hingewiesen.

„Hysterie“ nennt der Arzt jene geheimnißvolle, in ihren letzten Gründen noch keineswegs aufgeklärte Erkrankung des Nervensystems, welche, in den Entwicklungsstadien des weiblichen und, obwohl seltener, auch des männlichen Geschlechts auftretend, in ihrer proteusartigen Vielgestaltigkeit dem Wunderglauben der ältesten wie der neuesten Zeit die brauchbarsten Medien geliefert hat. Hysterie war es, was nach dem Gutachten des leider nur flüchtig gehörten Arztes die krampfartigen Wuthausbrüche jenes Knaben von Wemding veranlaßt hatte; auf Hysterie lautete auch das Gutachten der Gerichtsärzte, dem die Heilige von Büdingen ihre Freisprechung verdankte, insofern diese Krankheit die bewußte selbstsüchtige Absicht eines Betrugs, so sehr auch der Thatbestand dafür sprechen mochte, nach Ansicht der Richter aufhob. Denn es ist eine Eigenthümlichkeit dieses Leidens, daß mit einem aufs höchste gesteigerten Nervenleben bei dem Kranken ein unwiderstehlicher Trieb, Aufsehen zu erregen, sich verbindet, der, sei es durch äußere Beeinflussung oder auch durch die selbstthätige Erweckung von Vorstellungen (Autosuggestion), leicht jenen Grad erreichen kann, wo die Unterscheidung von Wahr und Falsch, Gut und Böse wenn nicht völlig aufhört, so doch wesentlich getrübt und selbst das körperliche Schmerzgefühl in einer Weise abgestumpft ist, die wohl manchem wunderbar scheinen mag.

Dieselbe Krankheit, die je nach der Richtung, in der sich die Vorstellungen des Kranken bewegen, dem Teufelsglauben so wirksamen Vorschub leistet, daß es bis zum feierlichen Exorcismus kommt, kann im anderen Falle für abergläubische Gemüther zur Quelle andächtiger, fast göttlicher Verehrung werden, die namentlich eintritt, wenn die Krankheitserscheinung sich bis zur Stigmatisation steigert, d. h. äußerlich jene Wundenmale aufweist oder doch aufzuweisen scheint, welche der gekreuzigte Christus trägt.

Der Fall, den wir hier im Auge haben, hat sich in dem württembergischen Oberamt Leutkirch zugetragen und im vorigen Jahre gleichfalls zu einer gerichtlichen Voruntersuchung geführt, welche, gegen die Eltern der Kranken gerichtet, wieder eingestellt werden mußte, da sich auch hier die Beweise eines in selbstsüchtiger Weise verübten Betrugs nicht unbedingt feststellen ließen.

In folgendem schildern wir den Vorgang, wie er sich nach den Berichten der vernommenen Augenzeugen, die fast durchweg an das Wunder glaubten, sowie der vom Gericht bestellten Kommission ziemlich übereinstimmend darstellt.

Schon vor mehreren Jahren hatte sich in dem Dorfe Aichstetten die Kunde verbreitet, daß bei der damals fünfzehnjährigen, seit längerer Zeit kränklichen Tochter Anna der Bäcker Henleschen Eheleute Erscheinungen zu Tage träten, welche auf natürlichem Wege nicht zu erklären, vielmehr als Ausfluß besonderer göttlicher Gnade zu betrachten seien; und dieser Gnade konnten auch Dritte durch Besuch und Unterstützung der Kranken theilhaftig werden. Dieses Gerücht, von den Eltern der Kranken genährt und in immer weitere Kreise sich verbreitend, lockte bald eine stets wachsende Zahl von Besuchern nicht nur aus dem Dorfe selbst, sondern auch aus dessen weiterer Umgebung, so namentlich aus den Orten der angrenzenden bayerischen Bezirke, in das wunderwirkende Krankenzimmer. Dieses verwandelte sich mit Hilfe der zwar nie ausdrücklich verlangten, aber stets gern angenommenen Geldspenden, wie sie übrigens bei Krankenbesuchen in dieser Gegend Brauch sind, rasch in ein kleines, mit allen Erfordernissen des römisch-katholischen Kultus hübsch ausgestattetes Tempelchen. Obwohl nun das bischöfliche Ordinariat frühzeitig gegen solchen Mißbrauch einschritt, auf Grund ärztlicher Gutachten die Beobachtung der Kranken in einer von geistlichen Schwestern geleiteten Anstalt verlangte, im Falle des Ungehorsams mit Entziehung der Sakramente drohte und die Gläubigen in jeder Weise vor dem Besuch des Hauses warnen ließ, so hatte dies alles doch nicht den gewünschten Erfolg, und insbesondere weigerte sich die Mutter aufs bestimmteste, ihre Tochter in auswärtige Behandlung zu geben.

Mündliche Berichte und photographische Darstellungen trugen das Wunder immer weiter, und bald stellte sich das Bedürfniß heraus, den mit der Bahn eintretenden Wallfahrern einen besonderen, die lange Dorfstraße abkürzenden Weg durch die hinter dem Hause liegende Wiese zu bahnen, der denn auch sehr rasch die Spuren eifrigster Benutzung aufwies. Je mehr aber die Schar der Pilger wuchs, desto mehr vervollkommneten sich die wunderbaren Erscheinungen am Körper und im Seelenleben der Kranken, bis sie sich aus erst nur schwachen und zusammenhangslosen Anfängen zu einem mit planmäßiger Pünktlichkeit sich abspielenden System entwickelt hatten, das, was die treue Nachahmung der biblischen Leidensgeschichte betrifft, selbst die Vorbilder einer Katharina Emmerich und Louise Lateau, mit deren Schriften sich die Kranke nachweislich eingehend beschäftigt hatte, weit hinter sich ließ. In diesem Stadium, mit dem übrigens, nach den Angaben der Mutter und der Stigmatisierten selbst, den Wundern keineswegs eine Grenze gesetzt sein sollte, mischte sich das Gericht in die Angelegenheit, indem es, ohne daß die Betheiligten eine Ahnung davon hatten, einen Augenschein vornehmen ließ. Es geschah dies an einem Freitag, an welchem Tage sich die Leidenserscheinungen regelmäßig einstellten, und zwar des Morgens kurz nach neun Uhr.

Um diese Zeit sitzt die Kranke aufrecht im Bette, mit einer Wollendecke bis unter die Brust zugedeckt, in ein weißes Hemd gekleidet, um die Stirn eine weiße Binde, unter der das Haar aufgelöst herabfließt, um den Leib eine ebensolche Binde, dem priesterlichen cingulum ähnlich, in einem Aufzug, der ihre Doppeleigenschaft als Opfer und als Priesterin deutlich kennzeichnet. Auch die Hände und Füße sind mit leinenen Binden umwickelt. Sie befindet sich jetzt angeblich in jenem Leidenszustand, welcher der Kreuzigung Christi unmittelbar vorherging. Der Körper wird von Krämpfen geschüttelt, die dunklen Augen sind starr ins Leere gerichtet, bald geöffnet, bald geschlossen. Sie schlägt sich wiederholt mit der Faust stark auf die Brust, dann kreuzt sie die Hände über derselben, verneigt sich, streckt die wieder gefalteten Hände in die Luft, den Kopf mit einem Ausdruck der Verzückung nach oben gerichtet. Um halb zwölf Uhr läuft aus dem krampfhaft geöffneten Mund eine Flüssigkeit, die von den Gläubigen als Himmelswasser bezeichnet und sorgfältig gesammelt wird.

Punkt zwölf Uhr, genau nach der Bahnuhr, hören plötzlich die Krämpfe auf. Die bisher scheinbar bewußtlose Kranke fängt an, mit geschlossenen Augen Gebete zu sprechen, dazwischen mischen sich Reden in einer fremden, den Anwesenden unverständlichen Sprache. Dann legt sie sich platt auf den Rücken, die sogenannte Kreuzigung beginnt, indem erst der rechte und sodann der linke Arm mit auswärts gekehrten Handflächen und leicht gekrümmten Ellbogen sich seitwärts und nach oben streckt, als ob sie einer angewendeten Gewalt wichen, worauf man im Innern der Bettstatt deutlich drei Hammerschläge hört, ein Geräusch, das sich nach einiger Zeit bei den gekreuzten Füßen wiederholt. Es fehlt natürlich nicht an gläubigen Zeugen, welche die von der Binde bedeckten, dem profanen Auge unsichtbaren Wundenmale wirklich gesehen haben wollen, eine Gnade, der die Gerichtskommission leider nicht gewürdigt wurde, wie ihr auch das Geräusch der Hammerschläge, wenigstens dasjenige bei den Händen der Kranken, verborgen blieb. Wieder wird der Körper und der Kopf der Stigmatisierten, während die Hände und Füße ruhig bleiben, von Krämpfen geschüttelt. Um ein Uhr vierzig Minuten – immer genau nach der Bahnuhr – spricht sie das biblische „Mich dürstet“ und schluckt einigemal sehr stark, worauf sich aus dem Munde wieder eine klebrige Flüssigkeit absondert, die nach Ansicht der Gläubigen die frühere an Wunderkraft noch übertrifft und ebenfalls sorgsam gesammelt wird.

Nun sinkt die Kranke in eine tiefe Ermattung, die in Anwesenheit der Gerichtskommission nur einmal durch ein sehr realistisches, völlig normales Gähnen unterbrochen wurde, bis sie um drei Uhr die Worte: „Eli, Eli lama asabthani“ und: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ ausspricht,

worauf sie mit geschlossenen Augen und offenem Munde, aber stark

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_494.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)