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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


bleibe? Das läßt sich nicht ändern, Hans, deswegen können wir doch gute Freunde bleiben.“

„Und Du wirst mich vergessen in dem großen Paris! Aber Du darfst es nicht – Du hast mich meinem Vater genommen, als ich noch ein Kind war, Du, nicht Deine Mutter, nicht Herr Berry, sie hätten nicht daran gedacht. Du mußt mich deshalb auch lieb haben – ach, ich liebe niemand auf der Welt denn Dich; ich wußte es selbst nicht so bis heute, als ich hörte, daß Du fortgehst. Claire, nur ein gutes Wort gieb mir für die lange schreckliche Zeit, und ich will Dir’s immer danken!“

Sie überließ ihm jetzt willig ihre Hand und lauschte begierig diesen nie gehörten, ihr kindliches Herz bestürmenden Worten. Auch sie schmerzte der Abschied, auch sie fühlte, daß sie nie mehr diesem Jüngling so gegenüberstehen dürfe, daß in zwei Jahren alles anders sein werde, und es war ihr, als müsse sie ihn festhalten, diesen Augenblick, der sie schwindeln machte vor Wonne, ohne daß sie in ihrer Unschuld ahnte, warum.

Arbeiter kamen aus der Werkstätte, Hans und Claire eilten Arm in Arm tiefer in den Schatten. Hans dachte an den Vater – wenn er sie beobachtete, Rache nähme für die Anklagen vorhin, wenn er vor Claire hintreten würde, ihr alles enthüllend! Der Angstschweiß perlte auf seiner Stirn, er zog Claire mit sich fort, von diesem Schreckensplatz weg.

„Ich muß heim, der Vater wird nach mir fragen,“ flüsterte sie, von dem Schauer des geheimnißvollen, verbotenen Weges erfaßt, den sie in dunkler Nacht hier an der Seite ihres Freundes ging. „Ich vergesse Dich nicht, gewiß nicht. Nütze die zwei Jahre, arbeite, was Du kannst, schwinge Dich empor, so hoch Du kannst, damit –“ sie legte ihren Mund dicht an sein Ohr – „damit die vornehme Dame mit Dir verkehren kann, verstehst Du mich?“

Die ganze Zukunft flammte bei diesen Worten in hellem Lichte vor Hans auf. Es war ihm, als ob die kleine Hand, welche die seine drückte, ihn mit Riesenkraft emporhebe bis zu den Sternen.

„Vergiß auch Du die Claire nicht! Lebe wohl, Hans!“ Die kleine heiße Hand entwand sich der seinen, ein Kuß brannte auf seiner Wange – Claire war im Dunkel verschwunden.

Er starrte ihr nach, die Hand auf das pochende Herz gepreßt. „Schwinge Dich empor, so hoch Du kannst!“ klang es immerfort in sein Ohr. Er wandte sich um – die Feuer loderten gleich Opferflammen zu den Schloten heraus, gegen den Nachthimmel empor; die schwarzen Hallen ringsnm zitterten unter dem mächtigen Pulsschlag der Arbeit. „Schwinge Dich empor, so hoch Du kannst!“

„Ja, das will ich – bis zu Dir, Claire!“ rief Hans in jugendlicher Begeisterung.

Da huschte ein Schatten an der Mauer entlang, ein gelles Lachen ertönte, Hans fuhr zusammen – der Vater, das Schicksal!


4.

Das war eine schlaflose Nacht für Hans nach diesem Abschied von Claire. Er schmiedete seinen Lebensplan; die Flammen der Hochöfen leuchteten ihm dazu, und die unzähligen Laute der Arbeit um ihn her, zu einem riesigen Accord vereinigt, stimmten seine Seele feierlich.

Hier unter ihren Augen in ihrer nächsten Nähe mußte ihm der Weg zur Höhe gelingen – gelang er doch auch anderen! Der Direktor war in der Werkstatt aufgewachsen und ein einfacher Monteur gewesen; Herr Berry selbst sollte sich noch vor zwanzig Jahren als armer Ingenieur mühsam durchgeschlagen haben. Und dann die berühmten Männer, die Erfinder, von denen er schon oft gelesen – alle fast waren sie arme, schlichte Leute gewesen! Und in dieser Welt von Dampfmaschinen, Schrauben, Hebeln, Kurbeln, Rädern und Rädchen lagen noch viele werthvolle Geheimnisse verborgen, die nur der glücklichen Hand warteten, die sie enthüllte. Dazu bedurfte es keines langwierigen Studiums der ihm unzugänglichen Wissenschaft, nur eines durchdringenden Auges, praktischen Sinnes und vor allem der warmen Liebe zu diesem ewig wandelbaren Märchenwesen „Maschine“ – und diese Liebe erfüllte ihn von Jugend auf, sie war mit ihm groß geworden. Schon mit seinen Kinderaugen hatte er das geheimnißvolle vielgestaltige Leben der Maschinen beobachtet, schon als Knabe hatte er, zusammensetzend und zerlegend, die allgemeinsten Gesetze ihres Daseins fast spielend kennengelernt. Warum sollte ihm nicht gelingen, was vor ihm anderen gelungen war, denen nicht eine Claire so unvergeßliche Worte zugerufen hatte!

Im nächsten Frühjahr sollte er aus der Gewerbeschule austreten, dann wollte er Herrn Berry um eine Stellung in den Werken bitten, so gering und niedrig sie auch wäre. Dann war er ein Mann, der sein Brot selbst verdiente – das war schon etwas, aber freilich noch lange nicht das, was Claire meinte. Zwei Jahre – er wünschte jetzt trotz seiner Sehnsucht, daß sie erst in zehn zurückkäme, dann wäre er seiner Sache sicher gewesen!

Die Wangen brannten ihm bei dem geistigen Vorwärtsdrängen; bald überkam ihn trotz allen Selbstvertrauens ein überwältigendes Gefühl seiner Ohnmacht, und verzweifelt gab er sich der Hoffnungslosigkeit hin; bald riß ihn seine erregte Phantasie mit fort und spiegelte ihm abenteuerliche Glücksfälle vor, die ihn mit Sturmeseile emporheben sollten. Schlief er ermattet ein, so weckte ihn ein gelles Lachen – des Vaters verstörtes Gesicht blickte ihn drohend an. Bittere Reue über seine fühllose Abweisung wollte ihn erfassen – aber Claire und seine Zukunft! Und wie der Wüthende ihn an der Kehle gepackt hatte – das waren Mördergriffe ... vielleicht hatte er schon einmal ... Hans wagte den Gedanken nicht auszudenken und verbarg sein schweißbedecktes Gesicht unter der Decke.

Endlich^ graute der Morgen. Hans machte sich über seine Bücher, kein Augenblick durfte versäumt werden – ein neues hastiges Leben begann.

Frau Merk trat ein. Seit Hans durch seine weitere Ausbildung ihrem personlichen Dienste entzogen war, ließ sie den Herrn Studenten, wie sie ihn spöttisch nannte, bei jeder Gelegenheit ihren Unwillen fühlen. Ihre Züge verriethen eine hämische Freude, das bedeutete für ihn irgend etwas Unangenehmes.

„Na, was sagte ich gestern, das gnädige Fräulein ist fort nach Paris, Knall und Fall, ohne Abschied. Das muß seinen Grund haben. Vielleicht erfährst Du etwas darüber; der Herr Kommerzienrath schickte gestern noch herüber, Du sollest Dich heute nachmittag um fünf Uhr in seinem Bureau einfinden. Ich glaube, der Wind hat sich gedreht. Nimm Dich in acht!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie das Zimmer.

Hans versprach sich nichts Gutes von dieser ungewohnten Bestellung. Entweder handelte es sich um seine Zusammenkunft mit Claire, die Herrn Berry verrathen worden war, oder um den Vater, der sich an den Kommerzienrath drängte, nachdem der Sohn ihn abgewiesen hatte. Ließ Herr Berry ihn jetzt fallen, so zerplatzten die Pläne dieser Nacht und all die kühnen Hoffnungen wie Seifenblasen; nichts war er dann als der hilflose Sohn eines Arbeiters – eines Verbrechers, den von Claire für immer eine unausfüllbare Kluft trennte.

Das Herz schlug ihm fast hörbar, als er sich um die bestimmte Stunde zum Bureau begab. Er mußte lange im Vorzimmer warten und hatte Zeit, über seine Vertheidigung nachzudenken. In jedem Falle fühlte er sich im Recht. Claire war seine Jugendfreundin, dieser Herr Berry selbst hatte ihn ja einst der Tochter geschenkt, und jetzt sollte ihr und ihm jedes Wort des Abschieds verboten sein? Konnte denn wirklich dieser Mann ihn verschenken und dann wieder in den Winkel werfen wie sein einstiges Ebenbild, den Automaten? Und wenn es das andere galt, das Zusammentreffen mit seinem Vater – war denn er an dessen Verkommenheit schuld oder nicht vielmehr dieser stolze Berry, der dem Verzweifelten das Letzte nahm, das ihn vielleicht noch gehalten hätte, seinen Sohn – einer Laune seiner Gattin, seines Kindes zuliebe, nicht aus Barmherzigkeit.

Ein dumpfer, unerklärlicher Groll sammelte sich plötzlich in seinem Innern an gegen den Mann, in dessen Hand seine Zukunft lag. Die trotzige Lust, hinzutreten vor den Gefürchteten, Mächtigen und ihm das alles offen zu sagen, erfaßte ihn ...

„Hans Davis!“

Er zuckte zusammen, ein Diener hatte seinen Namen gerufen. Er wußte selbst nicht, wie es kam, aber bei diesem Rufe tauchte mit einem Male Claires Bild vor ihm auf, und sein Zorn verflog – die trotzig gefaltete Stirn glättete sich, der kühn aufgerichtete Körper sank in sich zusammen. In demüthiger Haltung betrat er das Zimmer des Kommerzienrathes und verneigte sich tief.

Herr Berry sah ihn lange forschend an; Hans hielt den Blick tapfer aus.

„Ich habe ernste Dinge mit Ihnen zu reden, Hans,“ begann dann Berry in kühlem Tone. „Setzen Sie sich!“ Mit einer kurzen Handbewegung wies er aus einen Stuhl. „Claire

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