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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Weisheit sitzender unreifer Junge haben kann; und zudem – die Narbe von jenem Säbelhieb war mit ihm aufgewachsen und damit eine untilgbare Abneigung, die von Hans redlich getheilt wurde. Dennoch kam es nie mehr zu irgend einem Auftritt zwischen beiden; Hans wurde durch die Furcht abgehalten, Claire damit ganz zu verlieren, Otto durch die Angst vor dem jähen Aufblitzen des Zornes in dem Auge dieser „Wasserratte“, wie er den Gehaßten nannte.

Mitten in das stille Leben und Arbeiten hinein kam aber plötzlich böse Kunde für Hans. Fräulein Claire sollte in den nächsten Tagen nach Paris abreisen! Der Kommerzienrath hielt bei der bisherigen Zurückgezogenheit seines Kindes vor dessen Erscheinen in der Welt eine weitere Ausbildung für unbedingt nothwendig, wenigstens gab er seiner erstaunten Frau keinen anderen Grund an für seinen überraschenden Entschluß.

Hans zuckte bei der Nachricht zusammen wie von einem heftigen Schlage getroffen. Ein besonderer Umstand vermehrte noch seine Erregung. Am letzten Sonntag war er wie gewöhnlich im Herrenhaus bei Claire gewesen; sie schlugen Ball im Parke, und einmal verlor sich der Ball im Grase; sie suchten ihn längere Zeit, dann wurde ihnen die Sache zu langweilig, und sie schritten Arm in Arm durch den Park, schweigend, ohne etwas zu denken, aber seelenvergnügt. Da rief plötzlich eine zornige Stimme Claires Namen – es war der Kommerzienrath.

Das Mädchen wurde feuerroth und ließ mit einer jähen Bewegung den Arm ihres Begleiters fahren. Herr Berry war schon wieder verschwunden, trotzdem entfernte sie sich rasch unter einem sehr wenig stichhaltigen Vorwand.

Nun, als er die Nachricht von ihrer Abreise erhielt, stieg es heiß in ihm auf: gewiß, der herzliche Umgang mit ihm war der Grund der Entfernung! Aber was war denn an diesem Spaziergang im Parke besonderes gewesen, sie hatten ihn doch bisher jeden Sonntag ungerügt machen dürfen! Und sie sprachen doch nichts Unrechtes, sie sprachen ja gar nichts! Allein Arm in Arm mit der Tochter des Kommerzienraths Berry, des Millionärs, er, der arme Findling, die „Wasserratte“ – ja das war’s! Und deshalb schickte man seine geliebte Claire nach Paris? Da wäre es doch einfacher gewesen, ihn selbst fur immer aus dem Herrenhaus zu weisen. Oder war es etwas anderes – Furcht für Claire selbst, Furcht vor etwas zwischen ihr und dem armen Hans? Mit instinktiver Sicherheit erkannte er, daß hier der tiefste Grund verborgen liege. Das Blut schoß ihm jäh in das Gesicht, ein wildes nie gekanntes Freudegefühl durchzuckte ihn.

Claire stand auf einmal vor seinen Augen, aber sie sah ganz anders aus wie sonst, tausendmal schöner. Dieser große Blick, der Duft ihres Haares, der Druck ihrer Hand!

Er saß in seiner kahlen, häßlichen Stube über seinen Büchern. Frau Tini hatte ihm eben mit schadenfroher Miene die bevorstehende Abreise Claires berichtet. Zum Fenster herein blickte ein trüber, naßkalter Herbsttag; schmutzige Nebel zogen mit dem Kohlenrauch um die Wette über die schwarzen Schuppen und Hallen, und doch dünkte ihm das alles schöner als am sonnigsten Frühlingstag; sein Herz schlug mächtig, und ein wildes drängendes Gefühl hob die junge Brust, in der es wie etwas Großes, Unbekanntes zum Lichte wollte. Mit erregter Phantasie beschwor er seine ganze Vergangenheit herauf – Claire in tausend Bildern, von jenem ersten an dort im Scheine der qualmenden Fackel, deren Licht noch auf ein anderes ihm unauslöschlich eingeprägtes Antlitz fiel, auf das verzerrte blasse Antlitz der Mutter! Er selbst am Arm eines bärtigen Mannes, das Rauschen des Flusses, das laute Schreien und Drängen der Leute ringsum – noch nie war ihm die schreckliche Scene so klar vor Augen gestanden. Er forschte weiter – was kam dann? Richtig, eine warme Stube, ein Mann mit einem grünen Schirm über den Augen, und dann? Ein anderer, groß, breit, mit schwarzem wirren Haar tritt herein, die beiden Männer sprechen viel miteinander, der Schwarze schreit plötzlich auf und kommt dann auf ihn selber zu – es ist sein Vater, der „entlassene verkommene Arbeiter“, wie sie ihn immer nannten. Er hatte ihn nie mehr gesehen, nie mehr von ihm gehört, ihn ganz vergessen – bis jetzt. Wenn der Vater wiederkommen, wenn Claire ihn sehen würde in seinem Elend – sie würde nie mehr ihren Arm in seinen eigenen legen, nie ntehr, und das würde er nicht ertragen können! Und doch wird er es ertragen müssen, auch wenn der Vater verschollen bleibt – die aus Paris zurückkehrende Claire wird nicht mehr seine Claire sein. Sie wird schöner und schöner werden, andere Freunde bekommen, reiche vornehme Freunde, und ihren Hans vergessen. Doch das darf sie nicht, er wird es ihr sagen beim Abschied, daß sie das nicht darf. Er ist ja ihr Eigenthum, und niemand vergißt sein Eigenthum.

Eine plötzliche Furcht befiel ihn, Claire könnte abreisen ohne diesen Abschied, ohne daß er ihr noch das alles sagen dürfte. „Aber das soll sie nicht!“ rief er zornig aus . . . Allein wenn sie müßte, wenn der unerbittliche Herr Berry sie dazu zwingen würde ... Hans sprang auf von seinen Büchern, die niedrige Zimmerdecke drückte auf ihn, er mußte hinüber in das Herrenhaus, gleich jetzt. Wenn sie heute noch reisen müßte – um diese Abendstunde ging ein Schnellzug nach Paris! Entsetzen packte ihn; der Gedanke, daß sie schon fort sein könnte, raubte ihm fast die Besinnung, es war ihm, als gähne eine unermeßliche Leere zu seinen Füßen.

„Wann reist Fräulein Claire?“ rief er in die Küche, in der Frau Tini herumhantierte.

„Bald, heute wohl!“

„Woher wissen Sie das?“

Zuerst erschrak die Frau vor seinem verstörten Aussehen, dann lachte sie ihm plötzlich hellauf in das Gesicht.

„Der Wagen ist auf sechs Uhr bestellt, und gepackt wird auch, das weiß ich. Du glaubst wohl, es sei nicht möglich, daß sie geht, ohne Dir Lebewohl gesagt zu haben? O, Du dummer Mensch – das gnädige Fräulein und Du!“

Hans summte es in den Ohren, wie ein Schatten senkte es sich vor seine Augen. Entschlossen stürzte er die Treppe hinab, dem Herrenhaus zu. Um jeden Preis mußte er sie noch einmal sehen.

Er eilte über den schon dunkelnden Hof, zwischen den Schuppen und Lagerhäusern hindurch. Schon sah er die Villa. Lichter bewegten sich in dem sonst dunklen Bau. Eine gewisse Unruhe schien dort zu herrschen, die Unruhe der Abreise; Frau Tini hatte recht. Nun galt es Eile – der nächste Weg ging am Polierhaus vorüber. Da plötzlich trat aus dem dunklen Schatten des Hauses ein Mann vor ihn hin in der offenbaren Absicht, ihn aufzuhalten. Er sprang zur Seite, aber der Fremde hielt ihn mit eisernem Griffe fest. „Bleib! Mach’ kein Geschrei und hör’ mich an; ich wartete auf Dich,“ flüsterte er.

In Hans war jetzt kein Raum für die Furcht; er war nur wüthend über die Verzögerung. „Lassen Sie mich los, ich habe keine Zeit!“ sagte er knirschend, aber unwillkürlich leise, unter dem Banne der Mahnung, keinen Lärm zu machen.

„A bah, keine Zeit! Es giebt für Dich nichts Wichtigeres, als was ich Dir zu sagen habe,“ erwiderte der Mann, ihn festhaltend; er mußte seinem Aussehen nach ein Arbeiter sein.

„Ich muß zu Herrn Berry, bevor er nach Paris abreist – ich muß, und nun lassen Sie los oder ich rufe um Hilfe!“

„Herr Berry reist aber heute nicht, sage ich Dir. Er reist erst morgen, ich weiß es; also hast Du Zeit –“

Hans athmete auf. „Wissen Sie das bestimmt?“

„Bestimmt. Er bringt morgen seine Tochter Claire nach Paris.“ Der Mann wußte offenbar Bescheid. Jetzt wurde Hans doch neugierig – was konnte der Fremde von ihm wollen? Warum hatte er auf ihn gewartet? Er folgte dem Vorauschreitenden willig in den dunklen Schatten des Gebäudes und betrachtete dabei gespannt dessen Züge. Ein schwarzer Bart umrahmte ein dunkles Gesicht, schwarzes Haar fiel unter dem großen Hute auf die auffallend weiße leuchtende Stirn.

„Johann Davis ist Dein Name, nicht wahr? Es ist nur, damit ich gewiß nicht fehlgehe.“ Er lachte leise.

„So heiße ich,“ erwiderte Hans, von dem Geheimnißvollen der ganzen Sache gepackt.

„Du bist jetzt achtzehn Jahre alt, seit zwölf Jahren im Hause des Prokuristen Merk auf Kosten Berrys, nicht wahr?“

Hans nickte nur, ein gräßlicher Gedanke schnürte ihm die Kehle zusammen.

„Du weißt natürlich auch, wie Du zu dem Berry gekommen bist, sie werden es Dir schon oft vorgehalten haben, Deine Herren Wohlthäter –“

„Ich weiß alles.“

„Ich dacht’ es mir. Erinnerst Du Dich noch an das, was damals war? Es ist lange her, Du warst noch nicht sechs Jahre alt.“

„Dunkel nur. Aber was soll dieses Fragen?“

„Also doch noch dunkel,“ antwortete der Fremde, ohne sich um die gestellte Frage zu kümmern. „So will ich Dir ein bißchen

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