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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


mit einer ärgerlichen hastigen Bewegung zog sie das zögernde Kind zurück.

„Mama! Bitte, bitte, kaufe mir den lieben Jungen!“ flehte das Mädchen. „Ich will nichts zum Christkind als den kleinen Jungen. Ich muß ihn haben, Mama, hörst Du!“

Starker Eigenwille klang aus den letzten Worten. Claire machte Miene, nicht vom Platz weichen zu wollen, und das Volk ringsherum war der Frau Mama so lästig mit seinem unverschämten Gegaff.

„So komm’ nur, Du sollst ihn ja in der Nähe sehen, den Jungen,“ entgegnete sie deshalb beschwichtigend und verschwand mit dem Kinde rasch im Laden.

Wieder wurde der Hansl geholt. Die Verkäuferin erklärte den Mechanismus und zog das Uhrwerk auf. Claire betastete strahlenden Antlitzes das Wunderwerk, während die Mama prüfend auf den Zettel sah und eine Bewegung der Ueberraschung machte. Die Verkäuferin that, als ob sie davon nichts bemerke, sie pries laut die herrlichen Eigenschaften des kleinen Hansl, sein vortreffliches solides Innere und lachte selbst um die Wette mit ihrem Schützling. Frau Kommerzienrath dürfe nicht zögern, jede Stunde melde sich ein neuer Liebhaber, und niemand gönne sie den Hansl mehr als der Frau Kommerzienrath; für solche Herrschaften seien ja so kostbare Sachen gemacht, nicht für das Volk da draußen, das nur die Spiegelscheiben beschmutze mit den garstigen Händen.

Claire verschwendete alle Kosenamen an Hansl und an die Mama; sie wollte den Jungen durchaus gleich mitnehmen. Eine Weile ließ sich die Kommerzienräthin noch bitten, dann flüsterte sie der Verkäuferin etwas ins Ohr; diese nickte unterthänig.

„Das Christkindchen läßt sich von den Kindern nichts abtrotzen; bitte es schön um den Hans, und Du wirst ihn vielleicht bekommen.“

Claire lächelte sonderbar schlau über diese Worte der Mama – das reizende Kindergesicht erhielt dadurch einen frühreifen Ausdruck. So schnell man auch den Laden wieder verließ, es entging ihr doch nicht, daß Hansl nicht mehr in die Auslage zurückgestellt wurde. Sie verstand die Mama.

Die Kinder draußen vor dem Schaufenster blickten mit einem Gemisch von Zorn, Neid und Bewunderung auf das schöne kleine Mädchen, die glückliche künftige Besitzerin des so lange bewunderten Hansl, die jetzt von dem Bedienten in den Wagen gehoben wurde.

Erst nachdem das Gefährt verschwunden war, eilten sie lachend, pfeifend, springend, mit der vergeßlichen Sorglosigkeit der Jugend zu anderen ausgestellten Herrlichkeiten.

Claire schmiegte sich wie ein Kätzchen an das warme weiche Pelzwerk der Mutter und träumte mit offenen glänzenden Augen von dem strahlenden Weihnachtsbaum, unter dem Hansl seine Gesichter schneiden würde auf ihren Befehl; der Gedanke, unumschränkte Herrin zu sein über diese wunderbare, gleichsam mit Leben begabte Puppe, reizte schon im voraus ihren eigenmächtigen Kindersinn.

Die Frau Kommerzienrath ringelte die Locken ihres Töchterleins um die Finger und betrachtete mit stolzer Freude das schöne Antlitz, über das jeden Augenblick der Strahl einer Laterne hinzuckte. Allmahlich wurden die Pausen zwischen den einfallenden Lichtstrahlen immer länger, der Koth spritzte klatschend auf unter den Rädern, ein dumpfes Rauschen ging durch die Nacht. Der Wagen fuhr durch eine Allee, zur Seite glänzten die angeschwollenen Fluthen des Flusses. Das Haus des Kommerzienrathes Julius Berry, des Eisenkönigs des Landes, lag weit draußen, in nächster Nähe der Berryschen Werke.

Plötzlich stockte die rasche Fahrt, dann hielt der Wagen. Die Kommerzienräthin beugte sich besorgt hinaus. Eine dunkle Menschenmasse hielt die Straße besetzt, der matte Schein einer Laterne warf ein spärliches Licht darüber – sonst unheimliche Stille; nur das Rauschen des Stromes und das Prasseln des Regens auf dem Kutschendach war hörbar.

„Was ist, Peter?“ fragte sie den Kutscher angsterfüllt. Es war eben die Stunde, in welcher die Fabriken der Vorstadt sich entleerten. Berry war ein strenger Herr und bei den Arbeitern nicht beliebt – wenn man seinen Wagen erkannte – der Haß dieser Leute wuchs von Tag zu Tag!

„Ein Unglück, gnädige Frau!“ antwortete Peter. „He, was giebt’s da?“ rief er dann in barschem Tone.

„Pressiert’s so?“ – „Was kümmern sich die um so ein Elend!" – „Warten!“ klang es wirr durcheinander.

Die Kommerzienräthin wollte sich erschrocken zurückziehen, da sah sie die Pickelhaube eines Schutzmanns aus der Masse glänzen, und einigermaßen beruhigt, setzte sie ihre Beobachtungen fort.

Eine befehlende Stimme rief „Zurück! Platz!“ und die Menge theilte sich. Ein wassertriesender Mann und ein dunkler Klumpen auf dem Boden wurden im flackernden Scheine der Laterne sichtbar. Der Schutzmann beugte sich nieder und machte dann hastig Notizen nach den unverständlichen Aussagen des Mannes. Entsetzte neugierige Gesichter blickten aus dem Dunkel auf den Vorgang. Nun trat der Schutzmann zurück, und die Räthin erkannte in dem unförmlichen Etwas am Boden eine Frau mit bläulichem, verzerrtem Totenantlitz; an ihrer Brust lag mit schlaffen Gliedern ein Kind, ein Knabe. Blondes Haar hing in nassen Strähnen unter einer blauen Wollmütze in das feuchte Gesichtchen, schluchzender Athem hob gewaltsam die kleine Brust. Lauter und drohender lärmte die Menge und die Räthin glaubte mit Entsetzen den Namen „Berry“ zu hören.

Da schrie die kleine Claire laut auf.

„Mama! Gerade wie der Hansl im Laden vorhin!“

„Aber Claire, wie kannst Du so sprechen!“ antwortete leise und bebend die Räthin. „Der unglückliche Junge! Gott, daß ich das sehen muß – meine Nerven!“

Inzwischen hatte der Schutzmann den Knaben aufgehoben, der plötzlich die Augen starr öffnete und laut schreiend die Aermchen nach der Toten ausstreckte.

„Was fehlt dem Jungen?“ fragte Claire, die mit ahnungsloser Neugierde dem Vorgang zusah. „Wer ist die Frau?“

„Die Mama des armen Kleinen. Sie ist tot, Claire, ertrunken im Fluß,“ entgegnete die Kommerzienräthin, die sich schaudernd in die Ecke drückte und doch keinen Blick von dem traurigen Schauspiel verwenden konnte.

„Warum ertrunken?“ erkundigte sich Claire weiter, im Tone eines verwöhnten Eigensinns.

„Die Unglückliche wird wohl selbst hineingesprungen sein.“ Die Antwort klang ganz mechanisch.

„Warum?“

Die Mutter schwieg, es schnürte ihr die Kehle zusammen.

„Und was geschieht jetzt mit dem Kleinen?“

„Er ist nun wohl eine arme Waise, hat keine Mama mehr wie Du, Claire. Dieser Mann dort mit dem Helme wird für ihn sorgen.“

„Ist das sein Papa?“

„Claire, ich bitte Dich, quäle mich nicht so!“

„Ja, aber wem gehört er denn?“

„Ich weiß es nicht – und nun laß es der thörichten Fragen genug sein!“ Gespannt horchte sie wieder auf die wirren Reden der Leute, welche die Leiche umstanden. Plötzlich drängte sich ein Weib durch die Menge.

„Jesus, die Marie! Hab’ ich mir’s doch gedacht, die arme Marie! Hat sie’s nimmer ausgehalten. Ja, ja, die Marie!“

Das Weib strich das Haar aus dem Antlitz der Toten und blickte kopfschüttelnd, dann plötzlich in Schluchzen ausbrechend darauf nieder.

„Kennen Sie die Tote?“ fragte der Schutzmann, an sie herantretend.

„Heiliger Gott, und der Hansl!“ rief entsetzt das Weib, als sie den triefenden, ängstlich umherblickenden Jungen an der Hand des Schutzmanns gewahrte. „Mit dem armen Buberl is sie ins Wasser gangen? O, der Hallunge, der schlechte Mensch!“

„Reden Sie! Kennen Sie die Tote?“

„Na, werd’ sie wohl nicht kennen, die Marie Davis, wenn wir drei Jahre lang nebeneinander wohnen! Eine gute brave Seel’! Mein Gott, wenn ich denk’ – aber geben’s doch den Buben her!“

Der Schutzmann überließ ihr das willenlose Kind, um seine Aufzeichnungen fortzusetzen.

„Also Marie Davis heißt sie? Was war sie? Verheirathet? Was ist ihr Mann?“

„Ein Lump ist er, ein elender gewissenloser Lump – so ein liebes Kind, so eine gute Frau – ein Saufaus, der sie in den Tod getrieben hat!“

Der Schutzmann wurde ungeduldig. „Antworten Sie ordentlich auf meine Frage!“ befahl er barsch.

„Nun ja, die Wuth packt einen halt bei dem Anblick. In

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