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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Vom Himmel gefallen!“

Zum doppelten Jubiläum der Meteoriten.


Gegen das Ende des Jahres 1891 brachten die Tageszeitungen eine tragikomische Geschichte, in welcher ein angeblicher Meteorstein die Hauptrolle spielte. Auf dem Grundstück eines Müllers in Süddeutschland wurde ein Stein gefunden, dem man himmlischen Ursprung zuschrieb. Er sollte für schweres Geld an ein Museum verkauft werden, aber bevor der Preis noch bezahlt wurde, entzweiten sich ob der Theilung desselben der Wirth und der Knecht. Eine nähere Untersuchung ergab, daß der Stein eine Schlackenmasse sei und einem irdischen Eisenwerk entstamme. Der Kauf unterblieb und der „Mann aus dem Volke“, der Müller nämlich, liegt nun in grimmem Streite mit den Gelehrten.

Das Jahr 1892 ruft uns eine Zeit in Erinnerung zurück, in welcher das Volk und die Gelehrten über das Herabfallen der Steine vom Himmel arg miteinander stritten, bis das Volk, was auf wissenschaftlichem Gebiet seltener geschieht, gegenüber den „Aufklärern“ recht behielt. Heute zweifelt niemand daran, daß Steine und Eisenmassen aus dem Weltraum auf die Erde niederfallen; wir wissen wohl, daß die größeren Massen als leuchtende Meteore, die kleineren als Sternschnuppen unsere Atmosphäre durchschneiden, und die Astronomen belehren uns, daß dieses Ereigniß kein so seltenes ist, daß täglich etwa 10 bis 12 Millionen Sternschnuppen unsere Atmosphäre kreuzen und täglich 2 bis 3 größere Meteorsteine auf die Erde niederfallen, wenn auch nur die wenigsten von Menschen erblickt werden.

Die Völker des Alterthums waren gleichfalls mit dieser Naturerscheinung vertraut.

Griechen, Römer, Chinesen und Araber berichten in ihren Büchern oft von Steinfällen, und auch das „finstere“ Mittelalter erkannte die Thatsache an. In jenen alten Zeiten hatte man sogar die löbliche Sitte, über solche Meteorerscheinungen Urkunden auszustellen, die genau die Zeit und den Ort bezeichneten, wo die Steine des Weltraumes zu Erdenbürgern geworden waren. Viele dieser Urkunden sind verloren gegangen, einige sind noch erhalten und bilden für die Meteorsteine, die in Museen aufbewahrt werden, sozusagen Geburtsscheine. Nur die wenigsten der aufgefundenen Meteorsteine besitzen solche genaue Ausweise über ihr Alter auf Erden. Der älteste unter den legitimierten wird am 7. November 1892 seinen vierhundertsten „Geburtstag“ feiern, und da er in Deutschland niederfiel, so dürfte es sich wohl ziemen, das Fest des weithergewanderten Jubilars nicht sang- und klanglos vorübergehen zu lassen. Ein gut Stück von ihm liegt ja noch in dem Rathhause von Ensisheim im Elsaß und viele seiner Glieder ruhen in naturgeschichtlichen Museen und Mineralienkabinetten Europas. Eine Urkunde, die Jahrhunderte lang neben ihm in der Kirche von Ensisheim hing, meldet über seine Ankunft auf Erden folgendes:

A. D. 1492 uff Mittwochen nechst vor Martini den siebenten Tag Novembris geschah ein seltsam Wunderzeichen, denn zwischen der eilften und zwölften Stund zu Mittagzeit kam ein großer Donnerklapf und ein lang Getöß, welches man weit und breit hört, und fiel ein Stein von den Lüfften herab bei Ensisheim, der wog zweihundertsechzig Pfund, und war der Klapf anderswo viel größer denn allhier. Da sahn ihn ein Knab in einen Acker im oberen Feld, so gegen Rhein und Ill zeucht, schlagen, der war mit Waitzen gesäet, und that ihm kein Schaden als daß ein Loch innen würd. Da führten sie ihn hinweg und ward etwa mannich Stück davon geschlagen: das verbot der Landvogt. Also ließ man ihn in die Kirche legen, ihn willens dann zu einem Wunder aufzuhenken, und kamen viele Leut’ anher, den Stein zu sehen, auch wurden viel seltsame Reden von dem Stein geredet. Aber die Gelehrten sagten, sie wissen nicht, was es wär, denn es wär übernatürlich, daß ein solcher Stein sollt’ von den Lüfften herabschlagen. Darnach uff Montag nach Catharinen gedachten Jahrs, als König Maximilian allhier war, hieß Ihre Königliche Excellenz den Stein ins Schloß tragen und sagte, die von Ensisheim sollten ihn nehmen und in die Kirche heißen aufhenken. Also hink man ihn in den Chor, da er noch henkt.“

Kaiser Maximilian vergaß den Stein nicht, denn laut einer Urkunde aus Augsburg vom 12. November 1503 benutzte er ihn als Vorbedeutung, um die Christenheit zu einem Kreuzzug gegen die Türken aufzufordern.

Den Ensisheimern genügte aber die trockene Urkunde bei ihrem Steine nicht. Es fand sich ein Dichter, der das Ereigniß also besang:

„Tausend vierhundert neunzig zwey
Hört man allhier ein groß Geschrei,
Daß zunächst draußen vor der Stadt,
Den siebenten Wintermonath
Ein großer Stein bei hellem Tag
Gefallen mit einem Donnerschlag,
An dem Gewicht dritthalb Centner schwer,
Von Eisenfarb, bringt man ihn her
Mit stattlicher Procession.
Sehr viel schlug man mit Gewalt davon.“

Und zu der Urkunde und dem Gedichte gesellte sich mit der Zeit ein lateinischer Spruch: „De hoc lapide multi multa, omnes aliquid, nemo satis“ d. h. „Von diesem Steine (wissen) viele viel, alle etwas, niemand genug“ – was wohl bis auf den heutigen Tag zutrifft.

Es kamen aber unruhige Zeiten, in welchen dem Steine die beschauliche Ruhe im Gotteshaus nicht gegönnt wurde, die Zeiten der französischen Revolution. Das himmlische Kind wurde der Kirche entrissen und in die öffentliche Bibliothek zu Kolmar gebracht. Hier wurde der Stein der Beutelust von Raritätensammlern und Gelehrten preisgegeben, viele Stücke wurden von ihm abgeschlagen, und das größte, etwa 91/2 Kilogramm schwer, wanderte nach Paris. Endlich waren die Stürme der Revolutionszeit vorübergebraust, ein Gesetz erschien, welches verordnete, daß den Kirchen das ihnen Genommene, wenn es noch vorhanden wäre, wiedergegeben werden sollte. Da kamen die Ensisheimer nach Kolmar und holten sich ihren Stein, den sie wieder in der Kirche aufstellten, wo ihn der Naturforscher Chladni noch sah. Er war zusammengeschrumpft. Nach einer Mittheilung des Herrn Bürgermeisters von Ensisheim wiegt der Meteorstein gegenwärtig noch 53,5 Kilogramm und wird jetzt in dem großen Saale des Rathhauses von Ensisheim aufbewahrt. Der Spruch, daß wir mit dem Alter kleiner werden, paßt also mitunter nicht nur auf berühmte Menschen, sondern auch auf berühmte Steine.

Der Stein von Ensisheim ist ein wirklicher Meteorstein; er besteht aus felsartiger Masse, in welcher Eisen und Nickel eingelagert sind.

Der nächstälteste der legitimierten Aërolithen ist derjenige von Hradschina im Agramer Komitat in Kroatien, er fiel den 26. Mai 1751, und Bruchstücke von ihm sind noch heute in Museen vorhanden. Das bischöfliche Konsistorium zu Agram ließ mehrere von denen, die auf dem Felde ganz nahe bei dem Orte des Falles gewesen waren, als Zeugen abhören, faßte eine Urkunde darüber ab und übergab diese nebst der größeren Masse von 71 Pfund Gewicht dem Kaiser, worauf sie anfangs in der Schatzkammer zu Wien aufbewahrt wurde und später in das k. k. Naturalienkabinett kam. Dieser Aërolith ist insofern von Interesse, als er aus Meteoreisen besteht und an ihm der Wiener Gelehrte Widmanstätten durch Aetzen mit Säuren die sog. Widmanstättenschen Figuren erzeugte, durch welche das kristallinische Gefüge des Meteoreisens nachgewiesen wurde.

Der Aërolith von Hradschina kam zu einer Zeit auf Erden an, da die „Aufklärung“ sich vorgenommen hatte, mit seinesgleichen aufzuräumen. Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts machte die Naturwissenschaft unerwartete Fortschritte; viele Irrthümer und Fabeln der früheren Zeiten wurden widerlegt und die großen Erfolge der Wissenschaft verblendeten auch klarere Köpfe. „Jetzt glaubte man auf einmal alles, was nicht zum selbstgemachten Leisten paßte, wegwerfen und für Thorheit erklären zu müssen.“ Unglaublich, den Naturgesetzen zuwider erschien jetzt die Behauptung, daß Steine vom Himmel herabfallen könnten. Man eiferte gegen diesen lächerlichen Aberglauben mit Wort und Schrift und ging soweit, daß man an vielen Orten die aufbewahrten Meteorsteine wegwarf und die Urkunden vernichtete.

Die Steine fielen weiter vom Himmel, eine Mahnung an die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 438. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_438.jpg&oldid=- (Version vom 7.4.2024)