Seite:Die Gartenlaube (1892) 429.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


„Nein, Herr!“ Das war nicht Sprache, es war ein Schrei.

„Und als jenes Mädchen Dich um alle Ruhe brachte, kam es Dir da niemals in den Sinn, daß kein Weib noch jemals so einem Weibe glich, wie ein Kind seiner Mutter gleichen mag?“

Wortlos und zitternd stand Pater Desertus. Mit beiden Händen faßte er seine Stirn, mit starren Augen hing er an den Lippen des Propstes, dann jählings stürzte er in die Knie, und Wolfrats Hand umklammernd, schrie er: „Gieb mir mein Kind! Mein Kind!“

„Dietwald!“ rief Herr Heinrich erschrocken, als er die Wirkung seiner Worte sah. „Was hab’ ich gethan! Die Erregung hat mir entrissen, was meine Lippen hätten verschließen sollen als eine scheue, schwankende Ahnung!“

Pater Desertus schien nicht zu hören; seine Blicke hingen fest gebannt an Wolfrats Antlitz. „Herr, er schlägt die Augen auf!“

Sie labten den Erwachenden mit Wasser. Wolfrat blickte suchend umher und lallte: Wo ist ... der Jäger? ... Ist ihm was ... geschehen?“

„Nein, Wolfrat! Er hat sein Leben Dir zu danken!“

Ein tiefer Seufzer quoll über Wolfrats Lippen. „Und … und wird es der Herrgott … auch annehmen … als Buß’?“

„Ja, ja, Wolfrat! Doppelt gewogen in der Schale des Guten!“

„Herr!“ stammelte Pater Desertus. „Sehet doch, wie ich zittere und bange!“

„Der Himmel hat das Vorrecht vor der Erde,“ sagte Herr Heinrich ernst. Und wieder beugte er sich über Wolfrat, dessen Blicke mit scheuer Sehnsucht emporgerichtet waren in das dämmerige Blau des Himmels.

„Wolfrat?“

„Und wenn ich … jetzt hinaufkomm’ … darf ich auch hinein, Herr?“

„Ja, ja, mein guter Wolfrat.“

„Ich hab’ doch ... blutige Händ’ ...“

„Gott sieht auf die Hände nicht, er sieht in das Herz. Die Reue hat Dein Herz gereinigt, Du hast Leben mit Leben bezahlt, mein Priesterwort darf Dich lösen von aller Sünde, und ruhig könnte Deine Seele vor Gott erscheinen. Doch sieh, Du lebst ja noch …“

Schwer schüttelte Wolfrat den Kopf. „Ich spür’s … daß ich … hin bin!“

Seehunde im Hagenbeckschen Thierpark zu Hamburg.
Nach einer Photographie von Peter Nissen in Hamburg-St. Pauli.


„Herr!“ mahnte Pater Desertus und verschlang mit flehender Geberde die Hände.

„Sprich, Wolfrat, was war es, das ich Deinem Weibe sagen sollte?“

„Meine Seph’ … mein Bub’ …“ rang es sich in heißem Schmerz über Wolfrats blutige Lippen.

„Und das Mädchen?“ fiel Pater Desertus mit bebender Stimme ein. „Sie ist Deine Schwester nicht?“

„Nein … sie ist … ein Herrenkind ...“

„Wessen Kind?“

„Ich … weiß es … nicht …“

„Um Gottes Barmherzigkeit willen, wer ist ihr Vater, wer ist ihre Mutter?“

„Ich … weiß es … nicht ...“

In Qual und Verzweiflung faßte Pater Desertus das Haupt des Sudmanns in beide Hände. „Mensch! Ich beschwöre Dich! Wie heißt die Burg, in der das Kind geboren wurde?“

Kaum merklich schüttelte Wolfrat den Kopf, er wußte keine Antwort.

„Wo stand die Burg?“

„Ich … weiß es … nicht …“

„Wie kamst Du zu dem Kinde?“

„Aus dem … Feuer … hab’ ich’s …“ Er wollte weiter sprechen, doch quellendes Blut erstickte seine Stimme.

„Wolfrat! Wolfrat!“ schrie Pater Desertus aus gemartertem Herzen.

Herr Heinrich legte die Hand auf seinen Arm. „Dietwald, sieh, Pater Eusebius bringt das Sakrament!“

Desertus bedeckte das Gesieht mit beiden Händen und trat zurück. Ein großer von drei Knechten geführter Kahn hatte am Ufer angelegt. Haymo stieg ans Land; er trug das ewige Licht; einen Blick warf er auf Wolfrat und wandte sich ab mit nassen Augen. Pater Eusebius, eine kleine gebeugte Greisengestalt, ließ sich auf die Knie neben Wolfrat nieder, dessen Haupt auf dem Arm des Propstes ruhte. – Niemand sprach.

Die Knechte knieten entblößten Hauptes und mit gefalteten Händen im Schiff. Auf den Zinnen der Berge erlosch der letzte Schein der sinkenden Sonne. Tiefe Stille lag über Wald und Wasser. Als Pater Eusebius mit murmelnder Stimme das Gebet zu sprechen begann, fing drüben über dem See in der Bartholomäer Klause die Glocke zu läuten an, und von allen Felswänden klang ein leises Echo der schwebenden Töne.

Mit erlöschenden Sinnen empfing Wolfrat das Sakrament und lag schon bewußtlos, da Pater Eusebius sich erhob.

Als letzterer die volle Gefahr für den Verwundeten erkannte, da verwandelte sich der Priester rasch in den Arzt; er that, was seine Kunst an solchem Orte nur zu thun vermochte.

„Ist noch Hilfe?“ fragte Herr Heinrich, schon mit Zweifel in der Stimme.

„Nicht mehr bei Menschen!“ lautete die ruhige Antwort des Greises.

Mit matter Stimme rief Haymo einen der Knechte. „Nimm das ewige Licht!“

„Was ist Dir, Haymo?“ fragte der Propst erschrocken.

„Mir ist so schwindlig, Herr!“ Er hatte kaum ausgesprochen, als er ohnmächtig zu Boden sank.

Man hob ihn auf und labte ihn; er kam zu sich, aber die Füße wollten ihn nicht mehr tragen. Vom Seedorf waren zwei Knechte mit einem Kahn gekommen, es waren die beiden, aus deren Händen Gittli von Haymo erlöst worden war. Sie trugen den Jäger in den Nachen. „Schaffet ihn auf einer Bahre in

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 429. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_429.jpg&oldid=- (Version vom 7.4.2024)