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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Was mag denn der Hund nur haben?“ fragte Herr Heinrich. Er hatte kaum ausgesprochen, als die Hel aufheulend mit weitem Satz in das Wasser klatschte und gierig nach dem Ufer ruderte. In heller Erregung sprang Haymo auf und deutete mit dem Arm. „Herr . . . sehet . . . dort! Der Bär! Der Bär! Er will über den See schwimmen!“

Auf einen Bolzenschuß vom Ufer entfernt sahen sie den Kopf des Raubthiers gleich einem braunen Holzklotz über das Wasser treiben. Der Bär hatte den näherkommenden Hund schon gewahrt, zögernd schwamm er weiter, dann machte er plötzlich Kehrt und suchte das Ufer zu gewinnen. Heulend, schnappend und Wasser blasend, schoß der Hund hinter ihm her.

„Herr! Herr! Wir müssen nach,“ schrie Haymo, „oder der gute Hund ist hin!“

„Tauch’ an, Wolfrat, tauch’ an!“ rief Herr Heinrich mit klingender Stimme, während er nach einem Bolz griff und die Armbrust von der Schulter riß.

Wolfrat legte sich auf das Ruder, daß die Stange knirschte, und während Herr Heinrich sich zum Schuß bereit machte, riß Haymo seiner Wunde und Schwäche nicht achtend, den Fänger aus dem Wehrgehenk des Propstes. Die rufenden Stimmen waren zur Seeklause gedrungen. Pater Desertus erschien am Ufer, und als er gewahrte, was vorging, schrie er gegen die Klause: „Walti! Walti! Mein Griesbeil!“

Der Bär hatte seichten Grund gefunden und begann zu waten. Jetzt erreichte ihn die Hel und fiel ihn kläffend an. Der Bär hob die Tatze und schlug; winselnd überstürzte sich der Hund und verschwand im Wasser.

„Tauch’ an, Wolfrat, oder die Hel ist hin, die arme Hel!“ schrie Haymo. Da hatte sich der Hund schon wieder erhoben und fuhr im aufspritzenden Wasser auf den Bären los.

„Schießet, Herr, schießet!“

Die Sehne der Armbrust schnurrte, aber das Schwanken des Einbaums hatte den Schuß gestört ... der Bolz streifte nur den Schädel des Bären und surrte über das glatte Wasser hin.

Heulend machte die Hel noch einen letzten Sprung, dann hing sie verbisseu am Gehör des Bären, der auf den Hinterpranken aufgerichtet im schäumenden Wasser sich schüttelte, daß der Hund wie eine lebendige, zappelnde Quaste um ihn herbaumelte.

„Der Hund ist hin, ist hin!“ jammerte Haymo. Da wankten sie alle im Kahn. Der Einbaum war auf einen im Wasser liegenden Wurzelstock gerathen. Aber noch im Wanken schwang sich der Jäger aus dem Nachen.

„Haymo! Haymo! Bist Du denn von Sinnen!“ schrie Herr Heinrich, doch seine Arme erreichten den Jäger nicht mehr. „Zurück, Haymo! Mag doch der Hund hin sein! Zurück! Zurück!“

Haymo hörte nicht, die Erregung, der Jammer um das treue Thier machten ihn taub. Den blitzenden Fänger in der erhobenen Faust, warf er sich durch das aufklatschende Wasser gegen den Bären. Doch eh’ er ihn erreichte, hatte das Thier den Hund schon abgeschüttelt, und als die Hel wieder aufsprang gegen seine Brust, da schlug das Raubthier mit der Tatze ... und lautlos, ein blutiger Klumpen, fiel der Hund ins Wasser.

„Meine Hel!“ schrie Haymo, mit Zähren in den Augen, und in flammender Wuth sprang er auf den ans Ufer kletternden Bären zu. Er hörte nicht den zornigen Ruf seines Herrn, er hörte nicht das warnende Wort, welches Pater Desertus, der zwischen den Bäumen waffenlos herbeisprang, ihm zuschrie mit bebender Stimme ... er stürzte dem fliehenden Bären nach, verklammerte sich mit der Hand in das zottige Fell und führte im Lauf mit dem Fänger einen Stoß gegen die Weiche des Raubthiers. Das Eingeweide quoll hervor, dumpf brummend machte der Bär einen flüchtenden Satz ... aber Felsklötze versperrten ihm den Weg. Blitzschnell wandte er sich, richtete sich empor und ging auf den Jäger los.

Ein Schrei vom Schiffe, ein Klatschen im Wasser, ein Schrei von den Lippen des Paters ... doch unerschrocken stand Haymo, und als der Bär die Tatzen zur Umarmung ausbreitete, fiel der Jäger vor mit sicher gezieltem Stoß. Aber der durch die Wunde und die kranken Tage entkräftete Arm versagte, der Stahl glitt zwischen den Rippen des Bären aus ... Haymo wollte zur Seite springen, ein Griff des Raubthiers machte ihn straucheln und stürzen ... er war verloren. Allein ehe der Bär noch über ihn herfallen konnte, war Wolfrat durch das Wasser herbeigesprungen, und mit eisernem Griff schlug er dem Raubthier von rückwärts die beiden Arme würgend um den Hals. Doch was bedeuteten die Hünenkräfte eines Menschen gegen die wilde Kraft dieses gewaltigen, um sein Leben ringenden Thieres. Der Bär schüttelte sich und war befreit; dem neuen Feind sich zuwendend, führte er einen Hieb gegen Wolfrats Schulter, und ihn mit den Zähnen an der Brust fassend, klammerte er die blutigen Tatzen um ihn her, daß Wolfrat erbleichend stöhnte, während ihm das Haupt in den Nacken fiel. Ehe sich Haymo noch aufraffen konnte, war Pater Desertus herbeigestürmt, hatte den Fänger von der Erde gerissen und stieß ihn bis ans Heft in das Herz des Thieres; ein dicker Blutstrahl schoß hervor ... und die Tatzen des Bären lösten sich von seinem Opfer.

Als Herr Heinrich jetzt das Ufer gewann und Walti mit dem Griesbeil kam, war alles vorüber. Schwer athmend und bleich stand Haymo, verendet lag der Bär, und Wolfrat taumelte ins Moos, mit den Hunden ins Leere greifend, mit lallender Zunge nach Worten ringend.

Mit lautem Schreckensruf eilte Herr Heinrich auf ihn zu. Das Grauen, das den Propst erfaßte ... wie sah diese Brust und diese Schulter aus! ... machte ihn einen Augenblick zögern. Dann warf er sich auf die Knie nieder, und während er Wolfrats Haupt auf seinen Schoß hob, rief er: „Walti! Hinauf zur Klause und ziehe die Glocke, daß die Knechte vom Seedorf kommen. Und Du, Haymo ... kannst Du noch das Ruder führen?“

„Es muß sein, Herr! Was soll ich?“ sagte Haymo dumpf.

„Fahr’ hinüber nach Bartholomä. Pater Eusebius soll kommen, er soll Verbandzeug bringen und“ – die Stimme des Propstes dämpfte sich zum Flüstern, „und das heilige Sakrament."

Walti war schon davongestürzt, Haymo sprang in den See und watete zum Einbaum.

„Wolfrat, wie ist Dir?“ fragte Herr Heinrich.

Der Sudmann wollte sprechen, aber Blut trat über seine Lippen, er streckte sich stöhnend, und die Sinne schwanden ihm.

„Gott sei Dir gnädig!“ flüsterte der Propst, und zu Pater Desertus aufblickeud: „Ich fürchte, der Mann ist verloren! Doch wir müssen thun, was in unseren Kräften steht. Dietwald! Hier, nimm meine Kappe, hole Wasser!“

Pater Desertus eilte zum See und kam mit der gefüllten Kappe zurück. Heinrich wusch dem Sudmann das Gesicht und flößte ihm Wasser über die Lippen. Aber bange Minuten vergingen, ehe Wolfrat wieder zu athmen begann und die Augen öffnete.

Da hörte man von der Klause her das Glöcklein läuten.

Der Blick des Sudmanns wurde starr, und seine Zunge lallte. „Gilt ... das ... mir?“

„Nein, nein, Wolfrat, das Glöcklein ruft nur die Knechte zu Deiner Hllfe.“

„Hilf’?“ Wolfrat schüttelte den Kopf. „Mit mir ... hat’s ein End’, Herr! Alles ... ist eingedrückt ... da drin ... “ Er preßte die zitternde Faust auf seine blutende Brust und stöhnte: „Meine Seph’ ... Jesus Maria ... und mein Bub’, mein Bub’ ...“

„Sei ohne Sorge! Was auch geschieht, ich gebe Dir mein fürstlich Wort zum Pfande, Dein Weib und Kind soll nimmer Noth leiden!“

Wolfrat tastete nach der Hand des Propstes. „Vergelt’s Gott, Herr!“ Seine Stimme begann zu erlöschen, er kämpfte um jedes Wort. „und ... und saget ... meiner Seph’ ... sie soll ... soll ... die Gittli ... die Dirn’ ... ist meine Schwester nicht ...“

Pater Desertus erbleichte, und mit irrendem Blick suchte er die Augen des Propstes.

„Rede, Wolfrat, rede, rede!“ stammelte Herr Heinrich.

Lautlos bewegten sich noch einmal die Lippen des Sudmanns, dann verlor er wieder das Bewußtsein.

„Wolfrat! Wolfrat!“

In dem Antlitz des todwunden Mannes zuckte keine Miene mehr.

„Dietwald! Er darf nicht sterben!“ rief Herr Heinrich in rathlosem Kummer, „oder er nimmt auch Dein Leben mit hinüber!“

„Herr! Ich verstehe nicht,“ zitterte es von den Lippen des Paters.

„Du hörtest doch! Das holde Kind ist nicht die Schwester dieses Mannes. Hast Du sichere Zeugschaft, daß Dein Töchterlein das Los der Mutter theilte?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_428.jpg&oldid=- (Version vom 25.3.2021)