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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

gehört, wie ich auf der Alm meine Schwester gesucht hab’. Was will er denn von mir da droben?“

Die Knechte wollten ihn fassen; altein er trat zurück und machte zwei Fäuste. „Oho! So ist’s gemeint? Ich geh’ von selber mit, weil der Vogt mich haben will. Aber anrühren soll mich keiner, sonst schlag’ ich zu!“

„So komm’!“

Wolfrat nahm den Hut von der Ofenstange und ging auf sein Weib zu. „Behüt’ Dich Gott, Seph’! Bis morgen abend bin ich wohl wieder daheim.“ Er reichte ihr die Hand und hob den Buben in die Höhe.

„Vater,“ klagte Lippele, „Du thust mich drucken!" Und als der kleine Bursch’ auf der Erde stand, roltte er die Schultern und dehnte die Aermchen, als wären ihm alle KnÖchlein aus den Fugen gerathen und er müßte sie wieder einrenken.

„Also, weiter!“ sagte Wolfrat und ging den beiden Knechten voran zur Stube hinaus.

„Mutterl?“ fragte Lippele. „Wohin muß denn der Vater?“

Schluchzend warf sich Sepha über den Tisch; sie hatte ein Gefühl, als wäre ihr jählings etwas eisig Kaltes ins Herz gefahren.

Als Wolfrat aus der Hausthür trat, packten ihn die Knechte unversehens, der Frohnbote warf den Strick, und ehe Wolfrat ans Wehren denken konnte, waren ihm schon die Hände hinter den Rücken gebunden. Er sprach kein Wort mehr. Doch als sie ihn durch den Hag auf die Straße führten, warf er einen langen Blick auf das Totenbrett seines Kindes.

„Bet’, bet’,“ sagte das Brett, „vielleicht bist Du der Nächst’!“

Da kam der Knecht, den Herr Heinrich geschickt hatte, die Straße hergerannt. Keuchend blieb er vor den anderen stehen.

„Willst was?“ fragten sie ihn.

Er schüttelte den Kopf und ließ sie ihres Weges ziehen. Während er stand und ihnen nachblickte, hörte er aus dem Haus des Eggebauern lautes Geschrei und wirren Lärm, dann eine heuleude Weiberstimme. Gleich darauf kam eine Magd durch den Garten nach der Straße gerannt.

„Was ist denn los bei Euch?“ fragte der Knecht.

„Der Bäuerin ist was geschehen, ich muß zum Bader laufen.“

Er rannte neben ihr her. „So red’ doch, was ist der Bäuerin?“

„Der Krank ist schon über ein Jahr lang in ihr und hat ihr allweil unguter zugesetzt. Und da hat ihr der Bader gesagt, sie könnt’ nur gesunden, wenn man ihr ein Herzkreuzl eingeben thät’. Der Bauer hat ihr aber keins verschaffen können, und deswegen ist die Bäuerin allweil soviel schiech mit ihm gewesen und hat gezannt und gepagt[1] in einem fort. Heut’ auf den Abend sind sie wieder aneinander gerathen, und die Bäuerin im Zorn ist aus dem Bett gesprungen und hat ihm die Kunkel an den Kopf gehaut. Derweil aber ist sie ausgerutscht und der Läng’ nach hingeschlagen auf den Boden ... so ein schweres Leut ... und da muß ihr einwendig was gebrochen sein, ja, und drum muß ich zum Bader laufen ...“

Die Dirne wurde dem Knecht zu flink; er blieb hinter ihr zurück und wartete auf den Frohnboten, der die beiden Knechte und ihren Gefangenen nur eine kurze Wegstrecke begleitet hatte.

Die Dämmerung wandelte sich zur Nacht. Als die Knechte mit Wolfrat das Seedorf hinter sich hatten und den Wald erreichten, steckten sie die Fackel in Brand; der sie trug, stieg voran; dann kam Wolfrat und hinter ihm ging der andere Knecht, welcher den Strick, der von Wolfrats gebundenen Händen ausging, an seinen ledernen Gurt befestigt hatte. Nur zuweilen sprachen die Knechte ein paar Worte, die den Weg betrafen. Wolfrat ließ keinen Laut hören. Mit finsteren Augen starrte er vor sich hin auf den Pfad oder in den Wald hinein, in welchem der röthliche Schein der qualmenden Fackel einen gespensterhaften Kampf zwischen der fahlen, unruhig zuckenden Helle und den schwarzen Schatten erregte. Alles erhielt Leben; die moosigen Felsblocke waren anzusehen wie die Köpfe von Ungeheuern, die aus der Erde zu steigen schienen; Baumstrünke mit dürrem Astwerk tauchten aus der Finsterniß hervor gleich abenteuerlichen Gestalten mit borstigem Haar und zum Fang ausgestreckten Armen.

Als Wolfrat vor fünf Tagen diesen gleichen Weg in der Nacht emporgestiegen, da war es still und finster gewesen im Wald. Und langsamer war’s gegangen. Denn das Kreuzbild, das er auf dem Rücken getragen, hatte sich mit den ausgestreckten Armen bald an Bäumen, bald an Zweigen verfangen ... „grad, als hätt’s mich halten wollen,“ dachte er.

Auf den Almen rasteten sie eine Stunde; dann ging’s wieder weiter. Der Morgen dämmerte, als sie sich der Kreuzhöhe näherten. Mit scharfen, dunklen Linien hob sich das heilige Bild vom bleichen Himmel ab. Seit Wolfrat es gewahrt hatte, konnte er den Blick nicht mehr von der Erde erheben. Und als er am Kreuz vorüberschritt, geneigten Hauptes, mit scheuen Augen, rann ihm ein kalter Schauer durch das Herz. „Er lebt ja doch, ich hab’ ihn doch nicht erschlagen!“ schrie es in seiner Seele. Aber die Furcht wollte nicht von ihm weichen. Und eines wußte er: beten konnte er niemals wieder in seinem Leben, seit er an dieser Stelle, den Namen Gottes heuchlerisch auf den Lippen tragend, den Mordgedanken unter seiner Stirn geboren hatte. Er hatte nicht einmal beten können am Grab seines Kindes; so oft er auch begonnen: „Vater unser“ ... immer wieder stand das blutbefleckte Kreuz vor ihm und schloß ihm die Lippen.

Er athmete auf, als sie an der bösen Stelle vorüber waren. Ueber das Steinthal her blinkten im Morgengrau schon die Hütten. In den Felswänden hörte man die Steine gehen, welche die ziehenden Gemsen lösten. Einzelne Wölklein, tief violett, schwammen langsam am blassen Himmel.

Es begann schon voller Tag zu werden, als sie die Hütten erreichten. Auf der Bank vor dem Herrenhause ließen sie sich nieder; die Thüren waren noch geschlossen, alles war still; sogar die Quelle murmelte schläfrig, als wäre sie versiegt in der Nacht und begänne jetzt erst wieder zu fließen, da es tagen wollte. In der Jägerhütte schlummerte Haymo auf seinem Lager, und Frater Severin, der bei ihm hätte wachen sollen, schnarchte auf der Holzbank; er hatte am vergangenen Abend ein schweres Werk geleistet: er hatte sein „Pärchen“ Rechberg und Stein ganz allein bezwingen müssen, da Herr Heinrich den Vogt zu sich in die Schlafstube genommen, um den Heuboden für Gittli zu räumen.

Herr Schluttemann, dem die gewohnte „Bettschwere“ fehlte, erwachte zuerst. Lautlos öffnete er den Fensterladen, und da gewahrte er die Knechte und den Sudmann; eine Weile stand er unschlüssig und kraute sich den Kopf; dann ging er hinaus. Darüber erwachte Herr Heinrich.

Wolfrat und die Knechte erhoben sich, als der Vogt aus der Thür trat; kopfschüttelnd ging er auf den Gefangenen zu, er donnerte und blitzte nicht wie sonst, nur ernster Vorwurf klang aus seiner Stimme, als er zu Wolfrat sagte: „Polzer, Polzer! Was hast denn da jetzt angestellt! Das wird Dir einen bösen Tag bringen!“

Es wäre Wolfrat wohler zu Muth gewesen, wenn der Vogt geschrien und mit den Fäusten gefuchtelt hätte, als wollt’ er ihn niederschlagen auf dem Fleck. So aber fehlte ihm die Ruhe in der Stimme, als er, mit fiusteren Augen aufblickend, dem Vogt erwiderte: „Ich weiß nicht, was Ihr meinet, Herr! Aber wissen möchte ich wohl, warum mich Eure Leut’ überfallen und am Strick dahergeführt haben wie einen Ochs, den man metzgen will!“

„Polzer! Polzer! Thu' nicht leugnen!“ sagte Herr Schluttemann mit den sanftesten Lauten, deren er fähig war. „Sonst muß Dich einer fragen, der eine heiße Zung’ hat und eiserne Zähn’!“

Wolfrats Gesicht wurde aschfarben. „Ich brauch’ nichts leugnen und nichts eingestehen. Ich weiß nicht, was Ihr wollt von mir!“

„Polzer, Polzer! Ich will Dir in aller Güt’ nur sagen ...“ der Vogt verstummte, denn Herr Heinrich war aus der Thür getreten. Nur einen Bückling machte Herr Schluttemann und deutete auf den Gefangenen.

Lange ließ Herr Heinrich schweigend seinen Blick auf Wolfrat ruhen, und dieser ertrug den Blick und zuckte mit keiner Wimper.

„Bindet ihm die Hände los!“

Herr Schluttemann machte große Augen. „Reverendissime, ich bitte zu bedenken ...“

„Ich habe bedacht,“ sagte Herr Heinrich kurz. „Löset ihn, dann soll er mir folgen.“ Er trat in die Herrenstube.

Wolfrat athmete auf, reckte die befreiten Arme und folgte.

„Weck’ einer den Frater!“ sagte Herr Schluttemann zu den Knechten und ging hinter Wolfrat her. Kaum hatte er die Herrenstube betreten, als Gittli vom Heuboden über die Leiter niederglitt, mit verstörten Augen und totenblassem Gesicht. Die Stimmen hatten sie geweckt. Sie wankte zur Thür hinaus, sie hörte die Worte nicht, die Frater Severin ihr zurief, sie sah die Knechte nicht stehen und sie anglotzen ... mit vorgestreckten Händen

  1. Zannen und pagen = keifen und schelten.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_422.jpg&oldid=- (Version vom 14.3.2021)