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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


„Jetzt wissen Sie selbst, wie ungerecht Ihr Mißtrauen Sie macht, Hedwig. Woher denn diese pessimistische Anschauung vom Wankelmuth der Männer?“

Er bereute seine Worte auf der Stelle, denn er sah ihre vorwurfsvoll zu ihm aufblickenden Augen sich mit Thränen füllen.

„Glauben Sie nicht, daß – man zuweilen Gelegenheit hat, zu beobachten – –“

Sie unterbrach sich und fügte mit einem mißlungenen Versuch, einen trockenen Ton anzuschlagen, hinzu: „Mama hat bislang noch immer ihren Willen durchzusetzen verstanden.“

Er schwieg und fuhr fort, ihre Hände zu betrachten. Sie waren sehr weiß, nur die Nägel und die feinen Knöchel zeigten eine rosige Färbung, und er ertappte sich darauf, daß er ganz ernsthaft darüber nachdachte, ob sie in der Ruhe oder in der Bewegung schöner seien. Von der Mutter hatte sie diese zarten Hände nicht geerbt; Lolas Fingergelenke waren grob, die Nägel breit und flach – ein Schönheitsfehler, den sie sehr beklagte.

Ueberrascht fuhr Helmuth aus seinem thörichten Gedankenspiel empor, als er neben sich Hedwigs Stimme hörte, die sich plötzlich in das von ihm nicht beachtete Gespräch mischte.

„Ich kenne das Duett,“ sagte sie kühl und höflich. „Meiner Ansicht nach ist es das schönste, das Schumann geschrieben hat. Wenn Sie es mit meiner Schwester singen wollen, Herr Marboth, will ich gern die Begleitung übernehmen.“

Sich erhebend, legte sie die Handarbeit fort, und als sie an Helmuth vorüberging, schien ihr Blick zu fragen: „Bist Du mit mir zufrieden?“

Er lächelte und seine Augen begegneten Lolas mißtrauisch forschendem Blicke.

Herr Marboth war jetzt in seinem Element; er wurde beinahe lebhaft. Mit einem hübschen, wenn auch unausgebildeten Bariton begabt, dabei taktfest wie ein Tambourmajor, spielte er in einem Gesangverein seiner Heimath keine geringe Rolle. Da Resi mit dem Takte auf dem Kriegsfuß stand, brachte sie mehrmals Verwirrung in den Gesang, und mit Kopf, Fußspitze und Zeigefinger taktierend, bemühte sich der Sandblonde, das schöne Duett zu retten. Seine Grimassen erregten Resis Heiterkeit; sie brach ab, verschluckte sich, gerieth ins Husten, lachte und weinte zugleich über ihre Ungeschicklichkeit und eilte, dunkelroth vor Verlegenheit, aus dem Zimmer.

Marboth lachte in seiner geräuschlosen Art, daß ihm die hellblauen Augen voll Thränen standen, und äußerte: „Ich werde öfter mit dem gnädigen Fräulein üben; es liegt am Lehrer.“

Aus welchen Anzeichen er die mit solcher Sicherheit verkündete Ueberzeugung geschöpft hatte, war nicht recht ersichtlich. Jedenfalls war die Stimmung hergestellt, und verlor sich auch Hedwigs kühle Haltung nicht völlig, so verlief doch der Mittag in ziemlich heiterer Weise. Frau Lolas Gewandtheit gelang es, Herrn Marboth dauernd zum Mittelpunkt der Unterhaltung zu machen und seine schüchterne Steifheit ein wenig zu besiegen. Er nahm sogar einigemale einen Anlauf, Resi zu necken; gutmüthig keck hielt sie ihm Widerpart und blickte nur zuweilen etwas ängstlich nach ihrer Mama. Allein sie konnte doch wahrhaftig nichts dafür, daß Hedwig sich so ablehnend verhielt und daß inzwischen für des armen jungen Mannes Unterhaltung gesorgt werden mußte – es war wirklich zu nett von ihm, daß er sich so lange mit der ihrigen begnügte. Denn wenn Hedwig nur wollte – –

Aber sie wollte nicht. Auch abends während der Fahrt nach dem Theater hielt sie sich zu ihrer Mutter und zu Helmuth. Beim Verlassen der Pferdebahn nahm Lola sofort des Freundes Arm, und Hedwig beeilte sich, an seine linke Seite zu kommen. Einzelne Schneeflocken trieben sich in der Luft umher; Wagen auf Wagen fuhr vor dem Theater auf; und seine langen Beine zu kleinen Schritten zwingend, geleitete Herr Marboth die lustig plaudernde Resi sorglich durch das Wagen- und Menschengewirr dem Musentempel zu. Er deutete auf die elektrische Lampe, die wie ein bläulicher Stern über der Kuppel des Gebäudes schwebte, und Helmuth hörte, wie er mit tiefbewegter Stimme flüsterte:

„Sehen Sie das schöne Bogenlicht! Oder mögen Sie lieber Glühlicht? In unserer Fabrik haben wir –“

Helmuth mußte an der Kasse längere Zeit warten, ehe er ein Billet erlangen konnte. Als er den Saal betrat, hatte seine Gesellschaft bereits ihre Sperrsitze eingenommen, ziemlich entfernt von dem seinigen; er selber blieb bis zum Beginn der Vorstellung

stehen und beobachtete sie von weitem. Diesmal war es Lola gelungen, Hedwig neben Marboth zu bringen, während sie selbst mit Resi die Plätze dahinter in der folgenden Reihe einnahm. Wie suchend wandte Hedwig einigemal verstohlen den Kopf, und Helmuth meinte, ihre Augen aufleuchten zu sehen, als sie ihn entdeckt hatte; sie lächelte ihm flüchtig zu und vertiefte sich dann in das Lesen des Theaterzettels. Trotz der unbequemen Halsverrenkung war Marboths Kopf meist nach der hinter ihm sitzenden Resi gewendet, deren seltsames, fast immer lachendes Profil von Zeit zu Zeit neben dem ihrer Mutter auftauchte. Helmuths Auge schweifte von der einen zur anderen. Immer noch überstrahlte Lolas Schönheit selbst die ihrer ältesten Tochter um ein bedeutendes; ihre leuchtenden Farben, durch den Gegensatz zu den dunklen Haaren und Brauen noch wirksamer, zogen alle Blicke auf sich. Hedwigs Reiz, obwohl ihre Züge nicht minder schön waren, lag tiefer. Bis auf die blühend rothen Lippen ermangelte das Gesicht der Farbe und Fülle. Dafür bot es dem aufmerksamen Beobachter den wechselnden Ausdruck einer reichen Seelenthätigkeit; etwas wie eine fortwährende Aufmerksamkeit leuchtete still aus den langbewimperten graublauen Augen, eine Bereitwilligkeit, in Ernst und Scherz mit ihrer Umgebung zu empfinden – zugleich eine Scheu vor allem Zudringlichen und unedlen. Helmuth ertappte sich heute schon zum öfteren darüber, daß er Hedwigs Eigenart zu ergründen suchte. Vielleicht hatte seine Natur hier unbewußt ein Mittel gefunden, um sich von dem unfruchtbaren Schmerze über Lolas Verlust abzulenken.

Indessen, wer sagte ihm denn, daß Lola für ihn verloren sei! Eine augenblickliche Meinungsverschiedenheit hatte eine Abkühlung zwischen ihnen hervorgerufen; um so verheißungsvoller konnte die Versöhnung enden. Aber wünschte er denn eine solche Versöhnung? Was konnte sie ihm anderes bringen als eine Erneuerung der alten Ketten! Sie quälte ihn nur noch, diese alte Liebe, sie war ihm zur Last geworden; er fühlte eine trotzig frische, fast jugendliche Kraft in sich aufsteigen, eine Neigung, die alte ungesunde Leidenschaft abzustoßen, wie die Buche das überwinterte alte Laub abstößt, sobald im Lenze die jungen Triebe keimen. Ja, es war mehr als eine Meinungsverschiedenheit, was sich trennend zwischen Lola und ihm aufgerichtet hatte: es war der große, einschneidende Gegensatz zweier Naturen, die sich auf verschiedenster Grundlage aufbauen.

Grüblerisch wie er war, ward er plötzlich stutzig über seinen eigenen Gedankengang. Die Leidenschaft philosophiert nicht. War er denn wirklich seiner Bande ledig, da er sie sachlich zu betrachten vermochte? War er zum Begräbniß seiner eigenen Liebe hierher nach Berlin geeilt?

Er blickte zu Lola hinüber – ängstlich fast, als könne ihr Anblick ihn wieder in die ehemaligen Fesseln schlagen. Da saß sie, schön wie nur je; auf ihrem Haare spielte das gelbe Licht und zog gleißende Funken aus den darin verstreuten Brillantsternchen, einem Andenken an vergangene glänzende Zeiten. Ihr Profil mit den zum Lächeln leicht geöffneten Lippen hob sich fein und scharf von einem nahen weißen Bogenpfeiler; der reizende Theatersaal war wie geschaffen zum Schmuckkästchen für dieses Juwel. Und in vollem Genuß an ihrer Schönheit, der sich mit jeder Minute zu verstärken schien, studierte er das wundervolle Gesicht in allen seinen Einzelheiten. Zuweilen glitt sein Auge zu Hedwig hinüber, auf deren Zügen sich die Vorgänge des Lustspiels in Scherz und Ernst wiederspiegelten. Erst jetzt kam es ihm zum Bewußtsein, daß die Vorstellung längst begonnen, daß er mechanisch seinen Sitz eingenommen und verständnißlos die mehr oder minder geistreichen Wendungen des oft gesehenen Lustspiels an seinem Ohre hatte vorüberrauschen hören. Ja, jetzt fiel ihm ein, daß der Vorhang schon einmal gefallen war und er gewohnheitsmäßig mit dem übrigen Publikum Beifall geklatscht hatte. Um nachher auch seinerseits etwas über die Darsteller sagen zu können, zwang er jetzt seine Aufmerksamkeit auf die gewandt gruppierten Ereignisse des Stücks und fand sich rasch und angenehm genug in das wohlbekannte Gefüge hinein, um ihm bis zum Aktschluß zu folgen.

In der Pause verließ er seinen Sitz und wartete vor dem Eingang auf seine Freundinnen. Den übrigen voran bahnte Lola sich ihren Weg durch die nach außen drängende Menge und nahm mit einschmeichelnder Freundlichkeit Helmuths Arm.

(Schluß folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 416. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_416.jpg&oldid=- (Version vom 9.4.2024)