Seite:Die Gartenlaube (1892) 413.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


„Ist das wahr?“ fragte sie leise und hastig. Kommen Sie nicht mehr ausschließlich Mamas wegen – kommen Sie auch ein wenig um – um unsertwillen?“

Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern öffnete die Thür zum „Berliner Zimmer“ und trat mit ihm in die Dämmerung des großen Raumes, der sein Licht nur von einem einzigen, auf den Hof sich öffnenden Fenster empfing und die stattlichen Reste des einst so berühmten Winterschen Speisesaales zur Geltung kommen ließ. Auf dem gestickten Polsterbänkchen, das sich an zwei Seiten des riesigen Kachelofens hinzog, nahm sie Platz und winkte ihn zu sich.

„Sie haben recht,“ sagte sie mit verschleierter Stimme, die jeden Augenblick abzubrechen drohte, um sich in Weinen aufzulösen, „ich habe niemand mehr, gar niemand. Bis jetzt hatte ich doch Resi – aber die – die nimmt nun auch gegen mich Partei. Sie begreift gar nicht – aber ich kann doch nun einmal nicht – ich kann nicht!“

Jetzt brach das verhaltene Schluchzen wirklich hervor, mit einer wilden Leidenschaft, die den seltsamsten Gegensatz zu ihrer sonstigen Zurückhaltung bildete. Helmuth fühlte sich bewegt; von neuem ergriff er tröstend des Mädchens Hand. Sie zuckte zurück, überließ ihm dann aber willig die zitternden Finger, und er hatte die sonderbare Empfindung, daß diese schlanke schneeweiße Hand mit den bläulichen Adern in der seinen erkalte. Ihm war, als kenne er Hedwig erst seit den wenigen Minuten seines Hierseins; er warf sich vor, nie daran gedacht zu haben, daß diese Kinder, die von ihm unbeachtet neben der glänzenden Erscheinung ihrer Mutter wie schmächtige Schößlinge im Schatten eines vollblühenden Rosenstrauchs emporgewachsen waren, auch ein Seelenleben führten – vielleicht ein regeres und zarteres als die sich nach außen hin fortwährend ausstrahlende Mutter.

Betender Mohammedaner.
Nach einer Zeichnung von Max Rabes.

„Was begreift denn Resi nicht – was können Sie nicht?“ fragte er sanft, das kalte Händchen unausgesetzt streichelnd.

Hedwig sprang plötzlich empor, und ihr Taschentuch mit beiden Händen vor das Gesicht pressend, stürmte sie ans Fenster.

„O ich kann Ihnen ja nicht – es ist unmöglich –“ murmelte sie kaum verständlich.

„So glauben Sie nicht an meine Theilnahme? Soll ich gehen?“

Er hatte sich gleichfalls erhoben. Etwas wie Ungeduld war in ihm, zugleich eine wirkliche Furcht, sein jäh erwachtes Interesse an Lolas Tochter möchte eine Ablehnung erfahren. Nun wollte er auch einen tieferen Blick in diese junge Seele werfen; vielleicht ihr wohlthun, ihr helfen.

Langsam wandte sie das reine Profil vom Fenster ab; das kalte grauweiße Licht, welches von dem beschneiten Hofe hereinfiel, verschwand von ihrer Stirn und floß hell über das krause dunkelblonde Haar. Sie that ein paar Schritte ins Zimmer hinein und blieb dann unsicher stehen.

„Ich – nein – bleiben Sie! Mama wird ihnen ja doch – Sie sind ein bewährter Freund –“

Um ihn nicht ansehen zu müssen, trat sie ans Büffett und schien dort etwas zu ordnen. Ihr Gesicht war im Schatten.

„Sie wollen mich verheirathen,“ sagte sie absichtlich trocken und kurz abgebrochen. „Mit einem wildfremden gleichgültigen Menschen, mit einem, der von seinem Onkel hergeschickt wurde, um sich ein fremdes Mädchen zur Braut geben zu lassen. Wenn ich nur wüßte, warum! Sind wir denn auf eine so unwürdige Art der Versorgung angewiesen? Ich bin doch noch jung – nicht einmal ganz neunzehn. Weshalb quält Mama mich so – und Resi, die doch sonst –“

Helmuth fühlte, wie er erblaßte. Das also war es! Ein Gefühl der Beschämung stieg in ihm auf und zwang ihn, vor dem Mädchen die Augen niederzuschlagen. „Deine Mutter will glücklich sein, und deshalb sollst Du unglücklich werden!“ Das wäre die rechte Autwort auf ihr „Warum?“ gewesen. „Mit mir möchte sie glücklich sein, darum hat sie mich hergerufen, ich soll ihr helfen, Dich zu diesem Schritte zu bestimmen, denn sie hofft, die Selbstsucht werde mich beredt machen –“

Ein nagender Grimm gegen sich selbst, gegen Lola erfaßte ihn. Hatte dies Kind etwa weniger Anrecht auf Glück als er, als ihre Mutter, die doch schon manchen Becher schäumender Lebensfreude geleert hatte? Und um selber schnell zum Ziele zu gelangen, war die immer noch Lebensdurstige mit kalter Berechnung bereit, ihre Tochter gegen deren eigenes Gefühl zu verheirathen! Er selbst – er hatte ebenfalls eine möglichst schnelle Versorgung der Töchter gewünscht, ohne sich zu fragen, ob sie das als ein Glück ansehen würden! Aber – mein Gott – junge Mädchen sind eben dazu da, sich zu verheirathen, und je jünger sie sind, um so weniger wählerisch pflegen sie zu sein. Junge Mädchen – das ist so ein Allgemeinbegriff, zusammengesetzt aus Tanzlust, Schlittschuhlaufen, Theaterschwärmerei und Autographenalbums; giebt man ihnen einen beliebigen Bräutigam, so sind sie plötzlich närrisch verliebt und glücklich, erfinden die barocksten Kosenamen und sind nur noch in Konfektions- und Weißwarengeschäften anzutreffen. Allein dieser Schmerz der Kleinen! Es scheint also doch Ausnahmen zu geben – oder ob wirklich jedes dieser niedlichen Geschöpfchen so etwas wie eine Individualität besitzt?

Hier stand jedenfalls eine solche vor ihm, die ihren Antheil an Glück oder doch das Recht der freien Selbstbestimmung für sich in Anspruch nahm. Und er war gerecht genug, um gegen seine eigene Berechnung dieses Recht anzuerkennen. Sie sollte sich ihm nicht vergebens anvertraut haben, er wollte Lola klar machen – – was? Daß er das langersehnte gemeinsame Glück wieder auf unbestimmte Zeit, vielleicht auf Jahre, hinausschieben wolle?

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 413. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_413.jpg&oldid=- (Version vom 9.4.2024)