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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Lächeln, in welchem Helmuth etwas wie eine Verheißung las, nahm sie Abschied.

Als er sie jedoch in Berlin nach Jahr und Tag mit ungebrochener Leidenschaft an diesen verheißungsvollen Blick mahnte, wollte sie nichts dergleichen wissen. Sie hielt ihm eine freundschaftliche kleine Predigt und wies auf die heranwachsenden Töchter hin. Hedwig, ein langaufgeschossener Backfisch von fünfzehn Jahren, immer noch sehr zurückhaltend, mit großen aufmerksamen Augen, machte Miene, sich bei zunehmender Fülle in ein ungewöhnlich schönes Mädchen zu verwandeln; Resi, lebhaft und freundlich, aber von unbedeutender Erscheinung, zählte nur ein Jahr weniger. Konnte Lola als gute Mutter sich selbstischen Gedanken hingeben, da die Mädchen in ihrem jetzigen Alter ihrer mehr als je bedurften? Und dann, aufrichtig gesagt, sie genierte sich vor ihnen. So große Töchter im Hause – Hedwig’s beobachtende Augen – es war zu peinlich. Ja, wenn die Kinder sich früh verheirathen würden, so lange der Mutter noch ein Rest von Jugend verbliebe, dann – wer weiß! – vielleicht wäre sie thöricht genug, sich ein zweites Mal ins Joch zu begeben.

Und immer dieselbe Antwort, Jahr um Jahr. Er konnte ihr nicht einmal Unrecht geben. Ihn selber verwirrte häufig der fragende Blick aus Hedwigs blaugrauen Augen, den er so oft, so beharrlich auf sich ruhen fühlte. Das Mädchen hatte sich in der That zu einer Schönheit entwickelt, nicht so pikant wie die der Mutter, dafür aber zarter, ernster, seelischer – eine Uebersetzung Lolas ins Blonde und Aufrichtige. Infolge ihrer Wortkargheit hatte sie nur wenig Freunde und Verehrer, und die unscheinbare, aber zuthuliche Resi erfreute sich einer weit größeren Beliebtheit als ihre schone, stolze Schwester. Von einem ernsthaften Freier war keine Rede. Stand die schönere Mutter den Töchtern, standen diese sich gegenseitig im Lichte?

Ob jetzt der Zeitpunkt gekommen war, der den lang gehegten Traum verwirklichen sollte? Wohl zwanzigmal während der Reise zog Helmuth das Telegramm hervor. „Brauche Ihre Hilfe in persönlicher Angelegenheit“ – – konnte sich das nicht auf eine Geldsache, einen gerichtlichen Handel beziehen? Doch das hatte nichts Wahrscheinliches. Auch in Berlin besaß Lola bereits einen näheren Freundeskreis; sie hatte nicht nöthig, sich um einer vorübergehenden Unannehmlichkeit willen einen freundschaftlich geprüften Beistand aus Hamburg zu verschreiben. Dann hatte sie ja auch noch den Gutsbesitzer Marboth, eine Reisebekanntschaft, die zu großer Freundschaft gediehen sein mußte; wenigstens wurde sein Name im Winterschen Hause oft genannt. Dieser Mann, welcher seine Besitzungen in der französischen Schweiz bewirthschaftete, war für den eifersüchtigen Helmuth ein verhaßter Begriff gewesen, bis er erfuhr, daß jener bereits fünfzig Jahre zähle. Helmuth selbst war nur um wenige Jahre älter als Lola; konnte sie ihm, der ihr schon lange Zeit in treuer Liebe und opferbereiter Freundschaft ergeben war, den älteren Mann vorziehen?

Die Nacht war hereingebrochen; in ihrem Dunkel verschwand die öde flache Winterlandschaft. Nur ein Streifchen des beschneiten Bahndammes flog, im Lichte des Wagens sichtbar, vorbei, und droben stiegen die Telegraphendrähte auf und nieder, schoben sich übereinander, verschwanden in der Finsterniß und tauchten wieder empor. Ein kalter Nachtwind drang durch die Ritzen der feucht beschlagenen Fenster; drinnen war die Luft schwer und warm, die Sitze fast heiß. Ein trübes halbverdecktes Gasflämmchen erfüllte das Coupé mit düsterer gelbröthlicher Dämmerung. Die Reisegefährten schlummerten, bis auf ein junges Ehepaar, das in herausfordernd neuen Reisemänteln dicht aneinandergeschmiegt in leisem Geflüster Helmuth gegenüber saß; beider Hände begegneten sich in dem zierlichen Pelzmuff der jungen Frau. Helmuth versuchte zu schlafen, aber seine Augenlider brannten, sein Kopf schmerzte ihn. Er lehnte sich in die Ecke und blinzelte, unwiderstehlich angezogen, wieder und wieder zu dem Pärchen hinüber. Mehrere beobachtende Blicke von drüben trafen seine gesenkten Lider; endlich schien man sicher zu sein, daß er schlafe. das schleierumrahmte Gesichtchen der jungen Frau hob sich, und ein langer, geräuschloser Kuß vereinigte die Lippen der Glücklichen. Hastig schloß Helmuth jetzt die heißen Augen; ein Schreck war ihm in die Brust gefahren, und wie ein Hungriger, der andere prassen sieht, fühlte er sein Herz von einem sehnsüchtigen Mitleid mit sich selber beklemmt. Bilder der Vergangenheit, der erhofften Zukunft jagten an seinem inneren Auge vorüber. Seit fünf Jahren hatte er niemals diese Strecke zurückgelegt, ohne sich lockenden Zukunftsgedanken hinzugeben, und immer hatten sie ihn genarrt. Dennoch kehrten sie auch diesmal zurück, und gewohnheitsmäßig unterlag er ihrem Zauber. Und ein neues Bild trat hinzu. Nicht mehr die beiden Fremden saßen ihm gegenüber: sich selber und Lola sah er drüben sitzen, Hand in Hand; er fühlte ihren zarten durchwärmten Handschuh, das weiche Seidenfutter des Muffs, der diskret und doch so verrätherisch die beiden ungleichen Hände verbarg.

Aber dieses innigen hingebenden Blickes, mit dem jene Frau dem Gatten ihre Lippen gereicht hatte, war Lola nicht fähig. Er kannte ihre schönen dunklen Augen so gut; sie konnten Blitze sprühen, Blitze des Geistes, der Heiterkeit, des Zornes – auch der Leidenschaft; aber Demuth, weibliche Unterordnung unter einen stärkeren Willen vermochten sie nicht auszudrücken. Und wie unsäglich müßte doch die Hingebung diese wundervollen Augen verschönen! Wer es verstünde, ihnen solch einen Blick zu entlocken! Er nicht, er ganz bestimmt nicht – sonst wäre es ihm wohl schon längst gelungen. Ein Thor war er, daß er ihrem Rufe gefolgt war; er wußte ja, sie liebte ihn nicht – und doch ließ sie ihn nicht los, sagte ihm kein bestimmtes „Nein“ auf immer. Weshalb? Nun, man konnte ihn vielleicht noch brauchen; solch einen grenzenlos gutmüthigen Freund durfte man nicht verscheuchen, schon aus praktischen Gründen nicht. Und schließlich, wenn sich durchaus kein besserer fand – er war der einzige, der warten würde, bis sie beide alt und grau geworden!

Gereizt und zornig sprang Helmuth auf, besann sich und öffnete etwas verlegen die Lüftungsschieber über den Fenstern. Im selben Augenblick waren die Köpfe der Liebenden auseinander gefahren und lehnten sich wie auf Kommando mit geschlossenen Augen gegen die Polster. Wäre es möglich gewesen, noch umzukehren, Helmuth hätte sich jetzt dazu entschlossen. – –

Am nächsten Vormittag verließ er in der Potsdamerstraße den Pferdebahnwagen; in einem stattlichen Hause stieg er zum zweiten Stock empor. Kaum hatte er das Einlaß gewährende Dienstmädchen nach der gnädigen Frau gefragt, als die Thür eines Vorderzimmers sich hastig öffnete und Hedwig erschien, um mit schneller fluchtartiger Bewegung den Vorplatz zu kreuzen. Auf Helmuths Anruf kehrte sie ihm ein erschrecktes Gesicht zu, zwei in Thränen schwimmende Augen blickten ihm freudig überrascht entgegen, dann wandten sie sich mit einem Ausdruck von Pein und Verwirrung von ihm ab.

Die Zofe verschwand im „Berliner Zimmer“, während Helmuth Hedwigs Hand ergriff und sie zurückhielt. Sie standen vor dem Garderobespiegel, in welchen Licht genug fiel, um Hedwig ihr verweintes Antlitz zu zeigen. Vor Beschämung erröthend, versuchte sie, es zu verbergen und ihre Hand aus der seinen zu befreien, während sie mit den kleinen Zähnen auf die volle untere Lippe biß. Ein dunkelrothes Wollkleid umschloß die biegsame Gestalt, deren mädchenhafte Anmuth ihm nie so lebhaft aufgefallen war als in diesem Augenblick.

„Was giebt es, Hedwig?“ fragte er besorgt. „Ihre Mama –“

„Ist wohl,“ entgegnete sie mühsam, mit halberstickter Stimme. „Bitte, treten Sie ein sie wird sehr angenehm überrascht sein.“ Sie deutete auf eine Thür. „Mich – entschuldigen Sie wohl – ich habe – ich muß –“

Sie wandte sich verwirrt gegen das „Berliner Zimmer“, aber er vertrat ihr den Weg.

„Darf ich nicht wissen, was Ihnen Kummer macht?“ fragte er warm und eindringlich.

Rasch zu ihm aufblickend und ebenso schnell die Augen wieder senkend, fragte sie zurück:

„Seit wann interessiert Sie das?“

Es war der herbe stolze Ton den er schon früher von ihr gehört hatte. Er fühlte sich ein wenig getroffen, denn er war sich bewußt, die Tochter über der Mutter stets vernachlässigt zu haben. Trotzdem versetzte er schnell gefaßt:

„Seit ich mir vorgenommen habe, mich nicht länger durch Ihre abweisende Art zurückschrecken zu lassen – Sie könnten sonst leicht dazu kommen, sich auch noch Ihre letzten besten Freunde zu verscherzen.“

Sie sah unsicher zu ihm auf, leicht erstaunt, aber voll Hoffnung und Erwartung.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_412.jpg&oldid=- (Version vom 6.12.2020)