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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Orte zum anderen, als ob ihm nur knrze Zeit zur Verfügung stehe, um alles in Augenschein zu nehmen. Und nach einigen Wochen waren sie mit der ganzen Arbeit – denn eine Arbeit war es gewesen – fertig, und Berlin, soweit sie in der Lage waren, es jemals kennenzulernen, hatte keine Geheimnisse mehr für sie.

Frau Mathilde, deren Wissensdrang überhaupt ein sehr geringer war, fühlte sich immer in ihren vier Pfählen noch am wohlsten; sie hatte auch in Berlin die Gewohnheit nicht aufgeben können, sich viel um die Wirthschaft zu kümmern, was bei den neuen Dienstboten, die ihr zur Hand gingen, auch viel nothwendiger erschien als zu Hause in N. Sie war ihrem Konstantin immer bereitwillig gefolgt, wenn dieser sie angetrieben hatte, sich zum Ausgehen fertig zu machen, weil es sich darum handelte, dies oder jenes zu sehen und zu hören. Aber nun, da ihr Mann keine neuen Vorschläge mehr zu machen hatte, wandelte sie still waltend von einem Zimmer zum anderen oder saß mit einer Handarbeit auf dem Sofa, nach außen hin genügend beschäftigt, im Geiste „zu Hause“ bei ihrer Tochter und ihren Enkelkindern. Stevenhagen aber wußte sich gar nicht zu helfen. Er erhielt allwöchentlich Berichte über den Geschäftsgang, die er aufmerksam las und auf deren Beantwortung er so viel Zeit wie möglich verwandte; allein bei „Samnel Stevenhagen Söhne Nachfolger“ war alles so schön geordnet, ging alles seit so vielen Jahren so sehr in demselben Geleise, und Fritz wußte so genau, was er zu thun hatte, und stand seinen Obliegenheiten mit solchem Eifer vor, daß das Geschäft, welches früher Herrn Stevenhagen den ganzen Tag in Anspruch genommen hatte, ihn jetzt nicht länger als ein oder zwei Stunden die Woche kostete. Im übrigen war der gute Mann rathlos. Er interessierte sich für nichts, was in der politischen Welt vorging, aus dem einfachen Grunde, weil er davon nichts verstand; er hatte auch nicht gelernt, sich die Zeit mit Bücherlesen zu vertreiben. Sein Leben bis dahin war gewesen: Arbeit im Geschäft, Erholung im kleinen Kreise guter Freunde. Jetzt fehlte ihm die gewohnte Arbeit sowohl wie die Erholung – doch klagte er nicht.

Um seiner Frau die Langeweile zu verbergen, die wie ein schwerer Kummer an seiner Seele nagte, ging er am Tage viel aus, unter dem Vorwand, er wolle dies oder jenes wieder sehen, von dem er behauptete, es habe ihm besonders gefallen. Frau Mathilde theilte seinen Geschmack nicht und sagte dann gewöhnlich: „So geh’ nur lieber allein, ich habe im Hause genug zu thun“ – und er ging allein. Aber weder in das „schöne“ Panoptikum, noch in das „merkwürdige“ Aquarium, noch in den „großartigen“ Zoologischen Garten. Er ging einfach spazieren, „Unter den Linden“, in der Thiergartenstraße, in der Friedrichsstraße, in der Leipzigerstraße – und er fühlte sich in der Menge, die ihn umgab und manchmal geradezu beängstigte, vereinsamt und verlassen. Bekannte hatte er gar nicht in Berlin, nicht einmal sogenannte Geschäftsfreunde; „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“ bezogen ihren „Bedarf“ aus Stettin. Auch mit Standesgenossen war es ihm nicht gelungen, zusammenzutreffen. Die Herren Kommissionsräthe bildeten nicht ein Regiment im Staate, in dem er Soldat gewesen wäre und kameradschaftliche Beziehungen hätte anknüpfen können – Die schreckliche Langeweile hatte ihn einmal in einem Bierlokal dazu veranlaßt, sich den Adreßkalender geben zu lassen, und er hatte angefangen, darin zu lesen. Jedesmal, wenn er hinter einem Namen den Titel „Kommissionsrath“ oder „Geheimer Kommissionsrath“ gefunden hatte, war ihm der Gedanke gekommen, den einen oder den anderen dieser Herren Kollegen aufzusuchen. Aber zu wem sollte er gehen? Dieser war Schauspieldirektor, jener Rentier, ein dritter Inhaber eines Geschäfts wie er selber. Unter welchem Vorwand hätte er sich an sie wenden können? Herr Stevenhagen hatte noch niemals in seinem Leben aus eigenem Antrieb und ohne daß er durch die Verhältnisse dazu veranlaßt worden war, eine neue Bekanntschaft angeknüpft. Er hätte nicht gewußt, wie er sich bei Herrn Kommissionsrath A. oder Herrn Geheimen Kommissionsrath B. vorstellen solle, und es überkam ihn die gar nicht unbegründete Befürchtung, der eine oder andere möchte ihn vielleicht gar für einen Hochstapler halten. Denn zu der Erkenntniß war er bereits gelangt, daß der Titel, auf den er so stolz war, ihn nicht ermächtigte, bei anderen, einfach weil sie den gleichen trugen, um kollegialischen Verkehr nachzusuchen. – Einige Wochen gingen dahin, und Herr Stevenhagen wurde immer trauriger, und seine gute Frau Mathilde konnte beim besten Willen nichts thun, ihn aufzuheitern, denn ihr selbst war das Herz auch schwer; nur daß sie dank der Beschäftigung, die sie hatte, die Einsamkeit besser ertragen konnte als ihr Mann.

Die Tage wurden kürzer, die Spaziergänge nach Tische mußten eingestellt werden; Stevenhagen versuchte dem „Kneipen“ Geschmack abzugewinnen, aber es gelang ihm nicht. Er war kein Biertrinker, saß eine halbe Stunde lang über dem Kruge, den man ihm vorgesetzt hatte, beobachtete mit einer Art von Neid die benachbarten Tische, an denen so viele Leute saßen, die sich vortrefflich zu unterhalten schienen, und schlich dann traurig, wie er gekommen war, wieder nach Hause.

Da kam eine Art Rettung in der Noth: ein Brief von Fritz, der ankündigte, er sei krank, er könne im Augenblick beim besten Willen dem Geschäft nicht vorstehen und bitte Herrn Stevenhagen, einen neuen Vertreter zu ernennen oder, was noch unendlich viel besser wäre, selbst auf einige Tage zurückzukommen, denn er hoffe, daß er bald wieder in der Lage sein werde, seinen Verpflichtungen im Geschäft vollständig nachzukommen. – Ein Vertreter konnte natürlicherweise nicht ernannt werden; daran dachte Herr Stevenhagen nicht eine Sekunde. Er und Frau Mathilde packten noch am selben Tage einige Sachen zusammen und reisten nach N. zurück. Sie hatten ihre Ankunft telegraphisch angezeigt und wurden schon auf der Eisenbahnstation, die eine Stunde Weges von N. entfernt war, von Agathe und den beiden „Borsdorfer Aepfelchen“ empfangen. Das war eine Freude! Sie dauerte indessen nicht lange.

Fritz war in der That leidend, unfähig, aufzustehen; aber seine Krankheit war nicht bedenklich – er hatte die Masern und unglücklicherweise ganz gutartige, so daß das Uebel in vierzehn Tagen vollständig gehoben war und Stevenhagen nach dieser Zeit eigentlich keinen Grund mehr hatte, za Hause zu bleiben. Er war dort gelegentlich mit dem Doktor zusammengetroffen, der Fritz regelmäßig besuchte, doch die ehemaligen Freunde hatten es nicht über sich gewinnen können, mehr als einen kühlen Gruß auszutauschen; zu einer Versöhnung war es nicht gekommen.

Als Fritz wieder ganz geheilt war, fand Herr Stevenhagen noch verschiedene Vorwände, um seinen Aufenthalt im Städtchen zu verlängern; lange konnte dies jedoch nicht vorhalten, und eines Abends sagte er mit einem leisen Seufzer: „Ich glaube, liebe Mathilde, wir müssen morgen nach Berlin zurückkehren.“

Frau Mathilde fing sogleich an zu weinen, aber Stevenhagen that, als ob er es nicht sehe, nahm Hut und Stock und ging auf den Wall, wo er einen langen Spaziergang machte. Er wäre ja ebenso gern zu Hause geblieben wie seine Frau, und er hätte ebenso gut weinen können wie diese, wenn er nicht männlich gegen seine Gefühle angekämpft hätte. Aber er durfte nicht zeigen, was in ihm vorging, er durfte dem Doktor, dem Pastor und dem Postmeister nicht dea Triumph bereiten, ihn geschlagen zu sehen. Nein, lieber wollte er weiter dulden! Das war seine Pflicht; er war es sich selbst, war es dem „Kommissionsrath“ schuldig, obgleich dieser in letzter Zeit bei ihm etwas an Ansehen verloren hatte. Er gewährte seiner Frau eine Gnadenfrist von drei Tagen, und dann kehrten sie nach Berlin zurück.

Die große Stadt erschien ihnen öder als je, sie fühlten sich dort vollständig vereinsamt; das kurze Glück, welches ihnen das erneute Zusammensein mit den Kindern und den Nachbarn gewährt hatte, ließ sie ihre traurige Lage doppelt schmerzlich empfinden. Eines Tages, als Herr Stevenhagen nachdenklich am Fenster saß und auf die etwas entlegene Straße hinausblickte, in der er aus Sparsamkeitsgründen seine Wohnung genommen hatte, sah er einen Wagen nahen, der vor der Thüre Halt machte und dem, wie er bemerkte, ein langer, vornehm aussehender Herr entstieg. Gleich darauf hörte er an der Eingangsthür klingeln, und nachdem diese geöffnet worden war, trat das Mädchen in das Zimmer und überreichte ihm eine Karte, die den ihm wohlbekannten Namen seines Landraths trug. Dieser hieß, wie Steveahagen wußte, August mit Vornamen; auf der Karte stand „Harry voa Salwitz.“

„Bitte den Herrn, einzutretea,“ sagte Stevenhagea und erhob sich gleichzeitig, um dem Ankommenden entgegen zu gehen, der sich als der Neffe des befreundeten. Landraths vorstellte.

„Ich bin vorgestern von N. zurückgekommen,“ sagte er, „und soll Ihnen herzliche Grüße von meinem Onkel bringen. Er hat mir aufgetragen, Sie zu besuchen und mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen.“

„Der Herr Landrath ist wirklich zu liebenswürdig! Ich

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