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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Polizei und Verbrecherthum in Berlin.[1]

Von Paul Lindenberg. Mit Abbildungen von L. Manzel.
Die Schlupfwinkel der Verbrecher.

Die millionenbevölkerte Großstadt mit ihrem Gewirr und Getriebe erleichtert das Verbrechen und erschwert die Entdeckung. So umfangreich und ausgedehnt auch die Einrichtungen der Berliner Polizei sind, die jeden Einwohner mit den nöthigsten biographischen Notizen in ihren Personalakten verzeichnet hat, so genau die An- und Abmeldungen Zu- und Fortziehender seitens der einzelnen Polizeibureaus verfolgt werden, so sorgfältig auch die Kontrolle der unter Polizeiaufsicht stehenden Personen geführt und die Kriminalpolizei durch ihre Vigilanten über den zeitweiligen Aufenthalt bestimmter Verbrecher auf dem Laufenden erhalten wird – die Weltstadt ermöglicht es doch dem einzelnen, in ihrem Menschenstrudel auf kürzere oder längere Zeit zu verschwinden und, falls nicht Zufall oder Verrath dies verhindern, erst wieder an die Oberfläche des öffentlichen Lebens emporzutauchen wenn eine Entdeckung nicht mehr zu befürchten ist.

Betrachten wir die Schlupfwinkel der Verbrecher, so müssen wir in erster Linie des Schlafstellenwesens (richtiger: -unwesens) gedenken, welches in Berlin besonders stark ausgeprägt ist und die schlimmsten sittlichen Schäden in sich birgt. Die Höhe der Berliner Miethpreise zwingt Tausende und Abertausende von Familien, um die Miethe überhaupt aufbringen zu können, noch aus ihrer Wohnung Kapital zu schlagen, indem sie deren Räume zum Theil als Schlafstellen vermiethen und sogenannte „Schlafburschen“ oder „Schlafmädchen“ bei sich aufnehmen. Diese gehören größtentheils dem Stande der Fabrikarbeiter an, aber auch die gering besoldeten Angestellten anderer Berufszweige, wie kaufmännischer Geschäfte, der Eisenbahn und Post, der Pferdebahnen etc., gesellen sich ihnen zu und lassen die Zahl dieser Schlafstellen-Inhaber auf viele Tausende anschwellen. Die Vermiether kümmern sich wenig oder gar nicht um ihre Schlafburschen; die Persönlichkeit derselben ist ihnen gleichgültig, sie sind zufrieden, wenn die Miethe pünktlich bezahlt wird, und haben keine Veranlassung und kein Interesse, sich um Herkunft, Vorleben oder gegenwärtige Beschäftigung ihrer Miether zu sorgen, wie sie es auch nicht so streng mit deren polizeilicher Anmeldung nehmen und unter Umständen von einer solchen gänzlich absehen.

Bei „Mutter Grün.“

Bei derartigen Schlafstellenvermiethern finden die Verbrecher, von deren Thätigkeit jene selbstverständlich nichts wissen, jederzeit Unterschlupf und können sich so wochen- und monatelang den Augen der Polizei entziehen; der Vermiether oder, da dieser ja auch stets in irgend einem Arbeitsverhältniß steht, dessen Frau läßt den angeblich „arbeitslosen“ Schlafstellenbesitzer, falls er eine Kleinigkeit bezahlt oder sich im Haushalt nützlich macht, gern auch während des Tages in der Wohnung; die Anmeldung bei der Polizei ist auf seinen Wunsch unterblieben, da er vorgiebt, irgend eine kleine Ordnungsstrafe wegen Lärmens, Betrunkenheit oder einer Prügelei bezahlen zu müssen und dazu nicht in der Lage zu sein; sein Kommen und Gehen wird in diesen verkehrsreichen Häusern, unter denen einzelne Hunderte von Bewohnern zählen, von niemand kontrolliert, wie es auch keinem einfällt, nachzuforschen, woher er das Geld zum Leben nimmt, oder, wenn er fortbleibt, wo er die Tage und Nächte zubringt – genug, er ist für die Behörden plötzlich verschwunden.

Einen willkommenen, wenn auch nie ganz sicheren Unterschlupf bieten ferner die „Pennen“, die über ganz Berlin verstreut sind, Herbergen der niedrigsten Art, welche während der Nacht die Aermsten der Armen und die Verworfensten der Verworfenen bei sich aufnehmen. In niedrigen, vor Unsauberkeit starrenden Zimmern, in elenden Kellerlöchern, in verfallenen Schuppen und einstigen Ställen wird den darum Bittenden das Nachtlager angewiesen, dessen Preis von fünf Pfennig bis auf dreißig Pfennig steigt. Und wie ist dieses Nachtlager beschaffen! Zerrissene Säcke, halbverfaulte Strohschichten, zerbrochene Pferdekrippen, Stühle, Bänke und Tische, sehr oft die bloße Erde. Ohne sich zu entkleiden, ohne etwas zum Zudecken zu haben, schlafen hier eng zusammengedrängt jene, die für ihr müdes Haupt kein anderes Obdach erschwingen können oder – wollen, Drehorgler und Hausierer, Lumpensammler und beschäftigungslose Arbeiter, herabgekommene Handwerker und einstige Kaufleute, eine buntgemischte Gesellschaft, von der sich mancher nicht hat träumen lassen, daß er dereinst auf solchem Lager seine Ruhe werde suchen müssen!

Eine Penne.

Sind diese Pennen im Winter gewöhnlich überfüllt, so stehen sie im Sommer häufig leer, denn ihre Stammgäste ziehen dann ein Quartier bei „Mutter Grün“ vor oder wählen sich ein anderes nächtliches Heim. Die Auswahl ist ja groß, und der Obdachlose greift ohne Bedenken zu! Ganz gern läßt er sich in einem Neubau nieder, den er oft auf gefährlichem Leiterwege erklimmen muß, auch Böden und Dächer in bewohnten Häusern werden aufgesucht, nicht minder beliebt sind Eisenbahnwagen, dann Scheunen und Ställe, Droschken, Omnibusse und Möbelwagen. Letztere erfreuen sich einer besonderen Werthschätzung, sie sind geräumig, enthalten fast immer alte Decken, bleiben, wenn nicht gerade Umzugszeit ist, monatelang unberührt auf demselben Fleck stehen und können gleich eine ganze Anzahl von Pennbrüdern und Strolchen aufnehmen, denn auch diese ziehen Gesellschaftslager dem Einzelquartier vor. Durch einen Zufall entdeckte man einmal in einem solchen Möbelwagen, der auf einem etwas entlegenen Gehöft stand, ein ganzes Nest von Herumtreibern. Ein Kriminalschutzmann patrouillierte zu später Abendstunde eine der einsamen,

  1. Vergl. „Gartenlaube“ 1891, Halbheft 8, 15, 22 und 26.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 365. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_365.jpg&oldid=- (Version vom 6.4.2024)