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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

sein Verdienst sein; seinem Scharfblick konnte es nicht entgehen, daß dasselbe eine der wichtigsten Grundlagen seiner Kunst bildete. In der Benennung und Aufeinanderfolge der einzelnen Rechnungsgattungen ist das System Rieses noch heute maßgebend: er beginnt mit dem Numerieren, läßt darauf die „vier Spezies“ in ganzen und gebrochenen Zahlen folgen und schließt daran die Regeldetri (Ansatzrechnung), Gewinn- und Verlustrechnung, Gold- und Silber- sowie endlich die Gesellschaftsrechnung.

Das alles aber wäre nicht möglich gewesen, wenn er sich nicht zu einer That aufgerafft hätte, die ihm erst ermöglichte, auf dem von ihm angebauten Gebiet so Hervorragendes zu leisten. Zu Rieses Zeit waren fast ausschließlich römische Zahlen im Gebrauch, welche bekanntlich durch Buchstaben des großen lateinischen Alphabets dargestellt werden, und nur die Jahreszahlen wurden mit unseren jetzigen deutschen oder richtiger arabischen Ziffern geschrieben. Die Schwerfälligkeit der römischen Zahlen aber veranlaßte Riese, mit dem alten Herkommen zu brechen und sich ausschließlich der arabischen Ziffern zu bedienen, unbekümmert um das Zetern derjenigen Kreise, welche darin einen unerhörten Eingriff in geheiligte pädagogische Rechte erblickten. Und bald erkannte man auch die Richtigkeit seines Vorgehens; schon im Jahre 1553 wurde eine Bergrechnung der Stadt Buchholz bei Annaberg mit den neuen Ziffern ausgestellt. Man versuche einmal, sich auszudenken, daß auf einmal wieder mit lauter römischen Zahlzeichen gerechnet werden müßte, und man wird ermessen, welche Bedeutung dem kühnen Schritte des Annaberger Rechenmeisters zukommt.

Rieses Verdienste sind denn auch nicht vergessen worden. Schon im Jahre 1875 hat man am Rathhaus zu Staffelstein ihm zu Ehren eine Gedenktafel angebracht, und in Annaberg rüstet man sich, in diesem Jahre die vierhundertjährige Wiederkehr seines Geburtstags würdig zu begehen. In diesem Jahre! Denn wie die Umschrift des in unsere Anfangsvignette verwobenen gleichzeitigen Porträtmedaillons bezeugt, stand der Mann Anno 1550 „seins Alters im achtundfünfzigsten“, also ist er geboren 1492 – „nach Adam Riese“!




Der Kommissionsrath.

Novelle von Rudolph Lindau.


Auf dem Marktplatz der kleinen norddeutschen Stadt N. stand ein altes Haus, das Herr Konstantin Stevenhagen seit fünfundfünfzig Jahren, das heißt seit dem Tage seiner Geburt, bewohnte. Das lange einstöckige Gebäude war durch einen breiten, niedrigen Thorweg in zwei gleiche Theile getheilt. Auf der einen Seite hauste Herr Stevenhagen mit seiner Ehegenossin, einer kleinen behäbigen, würdigen Frau, die nur um wenige Jahre jünger war als er, den andern Theil des Wohnhauses nahm ein offener Laden ein; außerdem befanden sich dort das Comptoir und das Lager des alten Geschäfts „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“. Der einzige Inhaber dieser achtungswerthen Firma war Herr Konstantin, Enkel des alten Samuel Stevenhagen, der das heute noch fast unverändert fortbestehende Geschäft ausgangs des vorigen Jahrhunderts gegründet hatte.

Herr Konstantin Stevenhagen war ein untersetzter, breitschulteriger Mann mit kahlem Kopfe und glattrasiertem, rundem Gesicht, in dem ein Paar klarer, blauer Augen vertrauenerweckend, mit freundlicher, sicherer Würde in die Welt hinausblickte. Er stand in wohlverdientem hohen Ansehen bei seinen Mitbürgern und hatte seine innige Freude an der geachteten Stellung, die er einnahm, denn er gab mehr, als er es wohl selbst wußte, auf äußeren Schein. Er war in streng konservativen Gesinnungen erzogen worden, und seine Achtung vor der „hohen Obrigkeit“ und vor allem, was von nah oder fern damit in Verbindung stand, war ihm eine zweite Religion, die niemals durch einen Zweifel erschüttert worden war. Im Znsammenhang damit hegte er eine tiefe Verehrung für Titel, Orden und überhaupt für alle Auszeichnungen, welche von der Regierung verliehen werden. Als ein fester Freund des Althergebrachten betrachtete er Neuerungen mit Mißtrauen und beglückwünschte sich oftmals, einen Ort zu bewohnen, den Eisenbahnen und Gasanlagen bisher noch verschont hatten. Die Telegraphenstation der kleinen Stadt hatte für ihn etwas Unheimliches, aber da sie unter der Leitung eines königlichen Beamten, des Herrn Postmeisters, stand, so kam nie ein Wort des Tadels gegen diese Einrichtung über seine Lippen.

Herr Konstantin Stevenhagen handelte mit Zeugstoffen und ähnlichem; „Tuch-, Wolle- und Wirkwaren-Geschäft“ stand auf dem alten gelben Schilde über dem Thorweg. Vor dem Ladentisch erschienen die Frauen des Städtchens und kauften, was sie an Stoffen zu den Anzügen für sich selbst und für die Ihrigen gebrauchten, ohne viel zu feilschen, da Herrn Stevenhagens „Solidität“ über jeden Zweifel erhaben war; und hinter dem Ladentisch stand, wenn Frau Mathilde ihn nicht ablöste, was aber nur selten vorkam, Herr Konstantin Stevenhagen in eigener Person, mit würdevollem Lächeln und zuvorkommender Freundlichkeit, die oftgebrauchte Feder hinter dem Ohre – denn er borgte der ganzen Stadt – die Elle in der Hand und mit Engelsgeduld den endlosen Auseinandersetzungen folgend, die in den meisten Fällen einem jeden, selbst dem unbedeutendsten Einkauf vorangingen. Er war deswegen auch bei den Frauen des Ortes besonders beliebt und seine Kundschaft eine so treue und verhältnißmäßig ausgebreitete, daß er das hübsche Vermögen, das er von seinem Großvater und Vater ererbt, noch recht erheblich vermehrt hatte, so daß er in seiner Heimath für einen sehr reichen Mann galt und auch an einem größeren Orte mit Recht hätte für wohlhabend gehalten werden dürfen.

Herrn Konstantin Stevenhagens einziges Kind, seine Tochter Agathe, hatte sich vor zehn Jahren mit dem Bäckermeister Mertens, ebenfalls einem angesehenen und wohlhabenden Manne, verheirathet. In dieser Ehe waren zwei Kinder geboren worden, die auf Wunsch des Großvaters die schönen Namen Anastasius und Thusnelda erhalten hatten. Es waren ein paar blonde, helläugige, dralle Kinder – „Borsdorfer Aepfelchen" nannte sie der alte Doktor Nehring, dessen Lieblinge sie waren, obgleich sie ihm nie etwas zu thun gegeben hatten. Sie waren die Freude und der Stolz des Großvaters. Anastasius war seit seiner Geburt dazu bestimmt, das Geschäft „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“ zu erben; über Thusneldas Zukunft hatte man noch keine Bestimmung getroffen.

Die Familie Stevenhagen stand in stetem und ganz regelmäßigem Verkehr mit der Familie Mertens. Die Eltern speisten einmal in der Woche bei dem Bäckermeister und seiner Frau, und diese sowie die beiden „Borsdorfer Aepfelchen“ waren jeden Sonntag bei Herrn Stevenhagen zu Tisch eingeladen. Aber auch für die übrigbleibenden fünf freien Abende in der Woche war in regelmäßiger Weise gesorgt: es gab einen Kegelabend, ferner einen l’Hombreabend, die Herrn Stevenhagen gewöhnlich von seinem Hause entfernten, während Frau Mathilde dann zu ihrer Tochter oder in ein Kränzchen ging; zwei Abende waren der Buchführung und Handelskorrespondenz gewidmet, denn am Tage fand Herr Konstantin nur selten Zeit, ruhig schreiben zu können; den letzten, einzig unbesetzten Abend verbrachte er in Gesellschaft seiner guten Frau, mit der er seit dreißig Jahren in der glücklichsten Ehe lebte und die in Liebe und Verehrung zu „ihrem Konstantin“ emporblickte.

An diesen der Häuslichkeit gewidmeten Abenden pflegte Herr Stevenhagen oftmals zu sagen: „Weißt Du, liebe Thilde, die Abende, die ich mit Dir allein verbringe, so daß ich eine vernünftige Unterhaltung über die Kinder und das Geschäft mit Dir haben kann, die sind mir doch die liebsten.“ Aber wenn zufälligerweise einmal die Partie Kegel oder l’Hombre ausfiel, dann wurde es Herrn Konstantin doch augenscheinlich schwer, über die Zeit, die er nun dem Zusammensein mit seiner Frau hätte widmen können, hinwegzukommen, und nicht selten legte er sich an solchen Tagen eine Stunde früher als gewöhnlich, nämlich um neun Uhr, zu Bett.

Die Eintheilung der Wochen- und Sonntage war in dem Stevenhagenschen Hause eine so regelmäßige, daß man eine Uhr danach hätte stellen können: genau zur selben Minute wurde jeden Tag der Laden geöffnet oder geschlossen, und mit gleicher Pünktlichkeit wurden die Mahlzeiten eingehalten und der Sonntag durch regelmäßigen Kirchenbesuch geheiligt.

Der Herr Pastor und der Herr Doktor gehörten zu den guten Freunden des Herrn Konstantin und zu seiner „Partie". Er hatte für beide als für studierte Männer große Hochachtung und eignete sich ihre Meinungen über Tagesfragen wie Glaubensartikel an, die er gegebenenfalls hartnäckig zu vertheidigen wußte; doch erblickte er in ihnen – Kindern des Städtchens, mit denen er die Klippschule besucht hatte und sich duzte – Gleichgestellte, in deren Gesellschaft er sich keinen Zwang aufzuerlegen brauchte. Auch der Postmeister, der vierte Genosse am l’Hombretisch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_344.jpg&oldid=- (Version vom 6.4.2024)