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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


„Wie sprichst Du dieses Wort! Dietwald!“ Und Herr Heinrich erhob sich. „Du glaubst nicht an Gott – ein Priester!“

Mit tiefernsten Augen schaute Pater Desertus zu ihm auf. „Ich glaube an Gott! Wer hätte diesen Stein zu meinen Füßen erschaffen ... wenn er nicht? Wer hätte diese ewigen Felsen erbaut und über schwindelnd tiefe Gründe diesen schönen See ergossen ... wenn er nicht? Wer die Luft bevölkert, das Wasser und den Wald ... wenn er nicht? Wer hätte diesem Baum die nährende Wurzel gegeben, die treibende Kraft des Markes und den Wohlverstand, mit dem er seine Zweige nach der Sonne breitet ... wenn er nicht? Aus wessen Hand wohl wäre der Liebreiz geflossen, der mein Weib umschimmerte ... die süße Unschuld in den Augen meiner Kinder ... wenn nicht aus seiner Hand? Wer hätte mich selbst erschaffen und mein Herz erfüllt mit jauchzender Freude und seligem Glück ... wenn er es nicht gethan? Doch wer vernichtete mein Glück? Wer riß mir die Freude aus dem Herzen und füllte meine Brust mit Qual und Pein? Wer ließ mein Weib verbrennen und meiner Kinder holdes Leben erlöschen in Gluth und Rauch? Wer schickt den Blitzstrahl über diesen Baum, wer in sein Mark die Fäulniß? Wer schlägt mit Schmerzen und Tod alles, was athmet in Wasser, Luft und Wald? Wer stürzt die Felsen vernichtend über Thal und Hütten, und wer empört den See, daß er die Ufer überschäumt und alles ringsumher verwüstet, was doch nur Werk ist aus Gottes eigener Hand? Wer? Wer? Wer? ... Und warum?“

In Herrn Heinrichs Augen leuchtete ein herzlicher Blick. „Wer thäte das alles ... wenn er nicht? Aber ... warum? Ja, mein Sohn, da bin ich überfragt!“ Lächelnd legte er die Hand auf des Paters Schulter. „Sieh, Dietwald ... ich könnte sagen: was Uebles kommt, ist eine Strafe oder eine Prüfung. Aber das sag’ ich nicht ... zu Dir nicht! Gott prüft nicht ... er weiß doch, wie schwach die Menschen sind! Und wer wie Gott so groß ist in der Liebe, ist im Zorne nicht so klein – so kleinlich, wie Du bist mit Deinem thörichten Warum! Ja, ja, Dietwald!“ Er setzte sich an des Paters Seite und faßte seine Hand. „Du Kind von zweiundvierzig Jahren! Im Schmerze kannst Du fragen: warum?“

„Herr Heinrich!“ stammelte Pater Desertus.

„Hast Du aber auch gefragt in der Freude, im Glück? Gelt, da hast Du genommen und genossen! Da war Dir um den Grund nicht bange, warum Dir gegeben wurde. Das Gute leuchtet Dir ein, da glaubst Du an Gott ... nur im Schmerze willst Du nicht fassen und begreifen und Gott nicht finden. Das ist nun freilich schwer, und noch keiner, der lebte, hat es ganz zuwege gebracht. Sogar Christus der Herr hat am Kreuze gefragt: ‚Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?‘ Das sprach der Mensch in ihm! Sag’ mir, Dietwald wäre er denn Gott, wenn wir Menschen ihn so leicht verstünden? Und wenn Du fragst. warum? ... weißt Du denn auch, ob er nicht Antwort giebt? Er spricht vielleicht zu Dir im Wehen dieser Frühlingsluft, im Rauschen dieser Wellen. Nur ist Dein Ohr zu klein für alle Größe seiner Stimme!“

„Nein, nein, ich hör’ ihn!“ flüsterte Pater Desertus.

„Nicht wahr, Du hörst den Donner der Lawine, wenn Du über die Berge steigst im Frühling, Du weißt, weshalb sie fallen muß, und stumm bewundernd stehst Du vor dem herrlichen Schauspiel der Gottnatur, erhoben in Deinem Herzen. Hört ihren Donner aber auch die Fliege, die in einer Ritze der Felswand klebt? Nein, ihre Sinne sind zu kurz ... sie klebt ... und wird verschüttet und erstickt. Soll sie auch fragen. warum? Soll der Lauf der Zeiten slch Halt gebieten, soll ewiger Schnee die Halden drücken und keine Blume keimen lassen, nur damit die Fliege nicht gekränkt wird? Nicht wahr, das geht nicht an ... Du liebst ja die Blumen, Du sagst mit Deinem Verstande: der Schnee muß fallen. Die Fliege aber will es nicht begreifen! Von der Fliege zu Dir ist ein weiter, weiter Weg, doch nimm ihn millionenfach, und Du füllst die Strecke nicht aus von Dir zu ihm! In schwindelnder Höhe geht er seinen Weg, ein Schritt, und er ist über alle Berge, ein Schritt, und Meere liegen hinter ihm ... und jeder Schritt bringt Werden und Vergehen. Er kennt den Urgrund aller Dinge, er sieht das Ziel vor Augen, er denkt der Blumen seiner Ewigkeit ... doch wir, tief unter ihm, wir, Dietwald, sind die Fliegen unter der Lawine.“

Pater Desertus schlang die Arme um Herrn Heinrichs Hals und drückte das Gesicht an seine Brust.

„Ja, ruh’ Dich aus ... Du bist müde vom Leben. Und wenn Dir die Kräfte wieder kommen, dann beginne neu den Weg und blicke auf zu ihm! Du siehst ja von seinem Antlitz einen Zug auf jeden Fels geschrieben, ein Abglanz seiner Augen leuchtet Dich an aus jeder schimmernden Welle im See, und einen Hauch seines Athems hörst Du im Rauschen des Waldes. Und da Du, ein Mensch, ihn nun einmal nicht fassen kannst in seiner Größe, so halt’ ihn fest in seiner Liebe. Ich meine doch, Du hättest sie empfunden. Und was Du besessen ... hast Du es denn wirklich verloren? Nur weil Du es nimmer halten kannst mit Händen? Blicke doch in die Tiefe Deines Herzens! Liegt dort nicht alles, was an Glück und Wonne Dein eigen war, rein und heilig behütet, ein köstlicher Reichthum an dauerndem Erinnern! Dietwald! Dietwald! Du willst klagen? Weißt Du denn auch, um wieviel reicher Du bist als ich?“

Pater Desertus hob mit fragendem Blick die Augen.

„Alle holde Freude des Lebens hast Du genossen, bis Dein Glück sich wandelte in einen Schmerz wie ein schöner Frühlingstag in eine Nacht mit kaltem Reif. Mein Leben aber war ein Leidensgang von Schritt zu Schritt, eine reine Freude hat mir nie geblüht, und jede Frucht, nach der ich griff, trug den Wurm oder die Fäulniß in ihrem Kerne. Ich habe mehr gelitten als Du, da ich nur Schmerzen gewann, ohne Freuden zu verlieren. Ich hatte einen Bruder, der mich haßte, weil ich der Aeltere war; hatte eine Mutter, die nur ihren Tand und ihre Falken liebte; hatte einen Vater, der mich verstieß, weil ich nicht schmeicheln konnte; das Weib, das mich ohne Liebe nahm, brach mir die Treue; mein Freund, der einzige, an den ich glaubte, war ihr Verführer; ich diente redlich meinem Fürsten, wurde des Verraths beschuldigt und in Ketten geworfen. Aus dem Kerker floh ich ins Kloster. Ich haßte die Menschen ... und konnte Gott nur fürchten. Nicht mit Inbrunst ... in Zittern hab’ ich gebetet unb den Grimm meines Herzens zu ertöten gesucht in schwerer Büßung. Doch Haß und Furcht hingen fest an mir! Wenn ich aus dem Kloster niederstieg ins Thal, sah ich die Noth nur und der Menschen Pein; wenn ich emporstieg auf die Berge, sah ich nur die Schrecken der Natur, Verwüstung und Zerstorung – den Gott in seinem Grimme! Mit schaudernder Seele floh ich wieder heim in meine Zelle, sang und betete und schwang die Geißel.“

„Und wie kam Euch die Erlosung?“

„Es war an einem Tage spät im Herbst. Ich lag auf meinem Bett, entkräftet, blutend aus den Wunden, welche die Geißel gerissen, die brennenden Augen auf die kahle Wand geheftet. Die häßlichen Bilder meines kalten, nutzlosen Lebens zogen vor meinem taumelnden Geist vorüber, und jeder Gedanke war ein Schrei zu Gott: töte mich, töte mich, weshalb noch soll ich leben! Da sah ich an der Mauer einen Falter hängen; er hielt die Flügel geschlossen und rührte sich nicht. Ich griff nach ihm, und er ließ sich fassen. Seine Füße waren starr, die Schwingen gelähmt ... er war erfroren in meiner kalten Zelle. ‚Dein Schicksal ist das meine!‘ sagte ich und ließ ihn zu Boden fallen. Da stieg die Sonne über die Berge, und durch das offene Fenster meiner Zelle fiel ein warmer goldiger Strahl gerade auf die Stelle hin, auf welcher der Falter lag. Es währte nicht lange, da begann er, auf der Seite liegend, die Füßchen zu rühren. So zappelte er ein Weilchen, aber es gelang ihm nicht, sich aufzurichten. Ich hielt ihm den Griff meiner Geißel hill, er klammerte sich an das Holz und stellte die Schwingen auf; lange saß er ruhig, dann plötzlich legte er die Flügel auseinander, schloß sie wieder, kroch vom Holz der Geißel auf die Erde, und weiter und weiter, immer der Sonne nach, und an der Mauer empor auf das Gesims des Fensters. Hier saß er noch ein Weilchen, als müßte er rasten ... und immer spielte er mit den Schwingen ... und dann mit einmal begann er zu flattern, erst schwer und mühsam – doch immer leichter wurde sein Flug, und so schwebte er hinaus zum Fenster und gaukelte in den blauen Himmel.“

(Fortsetzung folgt.)




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