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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Ich weiß, Elsenheim, wo Papas Hochzeit in aller Stille gefeiert wurde. Nicht wahr, Onkel?“

„Richtig, Leonore! Du erinnerst Dich also noch? In Elsenheim hausten Mutter und Schwestern in großer Abgeschiedenheit; ich ermöglichte es, dort ein häufiger Gast zu sein. Es war ein gar trautes stilles Heim, sehr verschieden von dem großen geräuschvoll gastlichen Hause, das ich aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte.“

„Und dann? Was geschah dann?“ forschte Schwester Hilda.

„Es läßt sich nichts erzählen von den Jahren, die nun folgten, Hilda; ereignißlos löste eines das andere ab. Ich lebte ein stilles Leben. Mit dem Tode meines Vaters war mir ein reiches Maß von Pflichten und Sorgen geworden. Ich hatte abgeschlossen mit der Jugend und ihren Tollheiten und rang nach Klarheit, nach ruhiger Auffassung des Lebens, griff zu ernsten Büchern, versenkte mich namentlich in geschichtliche Studien, und lautlos glitten darüber die Jahre hin. Doch – was erzähle ich Euch da,“ unterbrach sich der Onkel plötzlich. „Verzeiht, ich bin weitschweifig geworden! Meine Entwicklungsgeschichte kann Euch nicht interessieren.“

„Doch, doch!“ rief Philipp, der hinzugetreten war. „Einleitung zu ‚Fall fünf‘!“

„‚Fall fünf‘!“ murmelte der Onkel. „Arme Maria Pia! Es ist Entweihung, die Erinnerung an Dich mit einer Nummer ins Gedächtniß zurückzurufen ...“

„Lauter, Onkel! Wir verstehen Dich nicht!“

„Jetzt ist’s genug, Kinder! Ich habe mich verleiten lassen, Euch einige Geschichten aus meiner Jugend zu erzählen, schon das war zu viel ...“

„Ach nein, nein – wir wollen mehr hören!“

„Es ist genug, und jetzt – basta! Jette braut mir wohl eine Tasse ihres köstlichen Thees – ich höre bedeutungsvolles Geklapper.“

Sie sahen, daß Onkel Christian entschlossen war, ihre Neugierde nicht weiter zu befriedigen; Jette eilte an den Theetisch, die anderen verloren sich allmählich; bald vernahm ich aus der Ferne das Rollen der Billardkugeln. Nur ich, ich saß wie festgebannt am Kamin und unwillkürlich folgte mein Auge den Blicken des Onkels, die wehmüthig ferne Bilder zu schauen schienen.

„Maria Pia!“ sprach ich vor mich hin, „wer war Maria Pia? Willst Du auch mir allein nicht weiter erzählen? Bist Du wirklich zu müde? Ach, bitte, lieber Onkel!“

Onkel Christian sah mich lange prüfend an. Und langsam, mit gedämpfter Stimme nahm er den Faden wieder auf.

„Maria Pia war eine Schulfreundin meiner Schwestern, die Tochter eines höheren Beamten, der sich aus der Welt, die seinem Verständniß entwachsen war, in die Tiroler Berge geflüchtet hatte – nach Meran, wo ich Vater und Tochter kennenlernte. Sie hieß Maria; doch in dem Kloster, in dem sie erzogen wurde und wo es der Marien viele gab, hatte man sie ‚Pia‘ zubenannt, ünd diese Bezeichnung, die so gut zu ihrem Wesen paßte, blieb ihr fürs Leben. Sie war ein blondes schlankes Geschöpf, mit feinen durchgeistigten Zügen. Und sie hatte Deine Augen, Lore, Deine freundlichen klugen veilchenblauen Augen.“

Er schwieg, indem er mich sinnend betrachtete, als wünsche er die Aehnlichkeit neuerdings festzustellen.

„Pia!“ sagte ich, „das heißt doch die ‚Fromme‘? War sie sehr fromm?“

„Ihr ganzes Sein war von ernster Gläubigkeit durchströmt, aber ihr Wesen war deshalb kein enges. Sie begeisterte sich für alles Schöne und zeigte in ihrer schlichten selbstlosen Art allen Menschen ein warmes liebendes Herz.

Daß wir uns gut wurden – ich weiß nicht, wie das kam! Aber es kam so selbstverständlich, als könne es eben nicht anders sein. In den ersten Tagen, als ich meiner Liebe gewiß wurde, wagte ich nicht, an die Möglichkeit von Pias Neigung zu glauben, ich fühlte einen Abgrund zwischen mir und diesem Engel. Sie selbst überbrückte ihn. ‚Da wir uns lieben‘ – sagte sie schlicht und ließ mir die Hand, die ich stammelnd und zögernd ergriffen hatte. Es war unter den großen Kastanien auf dem Wege nach Schönna – noch sehe ich das sonnige lachende Bild zu unseren Füßen. Pia und ich waren hinter den anderen zurückgeblieben –“

„Onkel,“ unterbrach ich ihn, „welche anderen? Und wie kam es, daß Du in Meran warst?“

„Wie zerstreut ich bin – damit hätte ich ja beginnen sollen! Die Aerzte hatten verordnet, daß meine Mutter den Winter in einem milden Klima zubringen solle, und gern willfahrte ich ihrem Wunsche, einen längeren Urlaub in ihrer Gesellschaft in dem gottbegnadeten Meran zu verbringen. Meine Schwestern wußten, daß sie ihre Freundin Pia dort finden würden. Mit Rücksicht darauf war die Wohnung gewählt – ihres Vaters Garten berührte den unseren.

Pia und ich verkehrten alsbald mit der größten Ungezwungenheit, was ihrem schlichten geraden Wesen in allen Fällen am besten entsprach. Sie plauderte gern und gut; doch nahm ein Gespräch mit ihr sofort eine ernstere Färbung an. Sie plauderte eben wie ein kluges Menschenkind, das selbst Antwort finden muß auf die Fragen und Zweifel, die sich ihm aufdrängen, und das froh die Gelegenheit ergreift, in dem Austausch mit Gleichgesinnten die Ansichten, die es in der Einsamkeit gewonnen hat, zu begründen und zu vertiefen. Wir waren nicht immer gleicher Meinung, Pia fand mein Urtheil mitunter zu schroff, zu hart. ‚Sie sehen eben mit dunklen Augen, ich mit blauen,‘ pflegte sie scherzend zu sagen, ‚im Grunde sehen wir doch beide dasselbe.‘

So, sorglos und frohen Muthes, durchwanderten wir Hand in Hand die herrliche Umgebung Merans. Und Pia, die kundige Führerin, verstand es, die Ruinen und Felsen beredt, Sage und Geschichte zur lebendigen Gegenwart zu machen! Ach – daß dieser sonnige Winter ein Ende nehmen mußte! Im Frühling sollte ich wieder zum Regiment. Vor meiner Abreise feierten wir die Verlobung. Die Unsrigen waren es zufrieden.

Da fiel der erste Tropfen Wermuth in den vollen Becher des Glückes. Der Arzt warnte Pias Vater; er glaubte, eine ernste Lungenkrankheit bei ihr entdeckt zu haben. So übertrieben mir auch seine Befürchtungen schienen, Pia und ich mußten uns den Wünschen des Vaters fügen und die Ausführung unserer Pläne auf Jahresfrist hinausschieben.“

„Aber der Arzt irrte?“

„Er irrte nicht! Wie ich später erfuhr, war Pias Mutter einer Lungenkrankheit erlegen. Der Blick des Arztes hatte nur zu richtig gesehen. Als ich im Herbste wiederkehrte, fand ich Pia so schwach, daß sie den Rollstuhl kaum mehr verlassen konnte. Das Uebel war entsetzlich rasch vorgeschritten. Doch, so hinfällig auch ihr Körper war, ihr Geist war reger denn je, ihre gleichmäßige liebenswürdige Heiterkeit unverändert. Nach wie vor liebte sie es, die Ereignisse des Tages, große wie kleine, zum Gegenstand der Erörterung zu machen, den Widerspruch förmlich herausfordernd, aber gar freundlich und anmuthig; sie führte die Waffen, um alle Welt für ihre Milde, ihr unerschöpfliches Wohlwollen zu gewinnen. So waren denn auch diese letzten Tage und Wochen, an welchen ich ihr Hinwelken von Stunde zu Stunde beobachten konnte, nicht ohne eigenthümliche Schönheit, schön trotz Bangigkeit und Trauer.

Der milde Winter erlaubte es, die Kranke beinahe täglich einige Stunden ins Freie zu bringen. Da saßen wir in dem sonnigen Gärtchen, oder ich rollte Pia in ihrem Krankenwagen an die Punkte in der Nähe, die sie liebte. Immer und immer wieder freute sie sich der schönen Bilder, der Sonne, der zauberischen Beleuchtung, und immer wieder strömte ihr Herz über von Dank für soviel Herrlichkeit, soviel Glück! Sie – so schön, so jung – und sterbend!“

„Sie ahnte wohl nicht …“

„So meinten wir auch. Doch ich glaube, sie war sich der Hoffnungslosigkeit ihres Zustandes längst bewußt. Eines Tages sprach sie es aus. Der Sohn des Gärtners, ein widerhaariger junger Bursche, sollte für irgend ein Vergehen hart bestraft werden – viel zu hart nach Pias Ansicht; mit Mühe gelang es mir, einen milderen Urtheilsspruch für den jungen Menschen zu erbetteln; und da Pia sich so lebhaft für die Sache interessierte, mag ich den Bericht über den Verlauf wohl etwas aufgebauscht haben. Leuchtenden Auges lauschte sie, und bevor ich es hindern konnte, hatte sie meine Hand, die in der ihren lag, an ihre Lippen gezogen. ‚O – Pia!‘ rief ich beschämt und gerührt, ‚ist es nicht Dein Einfluß, daß ich so gehandelt habe, daß ich milde und duldsam geworden bin!‘

‚Wenn es so ist, mein Freund, so laß diesen Einfluß mein Vermächtniß sein,‘ sprach sie leise und schloß die Augen. Doch unter der geschlossenen Wimper perlte eine Thräne hervor. Ich war tief bewegt und keines Wortes mächtig. Nach einer Pause fuhr sie fort: ‚Glaube, Freund, es ist besser so! Wolltest Du doch davon

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