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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Most predigen würde, man solle bei Gesellschaften Gift unter die Speisen mengen, würde man sicher als einen gemeingefährlichen Menschen einsperren, – Most ging frei umher, obwohl er lehrte, daß nur der zwanzigste Theil der Bevölkerung zu vernichten sei, um die Anarchie herbeizuführen, was für Deutschland den Mord von zwei und einer halben Million Menschen bedeutet!

Die Hetzreden Mosts in Nordamerika führten bald eine Katastrophe herbei; als im Jahre 1886 der große Streik in Chicago ausbrach, mischten sich die Anarchisten unter die Streikenden; es kam zu Tumulten und Zusammenstößen mit der Polizei. Die Anarchisten suchten ihre „Kriegswissenschaft“ zu verwerthen und warfen eine Dynamitbombe unter die Polizeimannschaft; sechzig Tote und Verwundete bedeckten den Kampfplatz. Damit aber war die Geduld der Amerikaner erschöpft; man ergriff die Rädelsführer und ließ sie henken. Most freilich kam mit einer Freiheitsstrafe davon; aber der Anarchismus in Amerika wurde wenigstens für längere Zeit zurückgedrängt.

Frankreich, in welchem die Idee des Anarchismns ausgedacht wurde, blieb längere Zeit von den Gewaltthaten der Anarchisten verschont. Als Propheten des Anarchismus traten hier in den siebziger Jahren der bekannte Geograph E. Reclus und der russische Fürst Krapotkin auf; aber die Bewegung fand so wenig Anklang, daß in Paris anarchistische Zeitungen nur infolge von Unterstützungen erscheinen konnten, die ihnen der Polizeipräsident Andrieux zukommen ließ, um durch den Hinweis auf das Vorhandensein solcher Blätter die Strenge seines Systems zu rechtfertigen. Mit dem Rücktritt Andrieux’ hörte dieses falsche Gebahren auf und der Anarchismus schien im Erlöschen begriffen zu sein, obwohl schon die Namen der verschiedenen anarchistischen Klubs in Paris, „die Brandfackel“, „die Dynamitbombe“, „der Panther“ etc., nichts Gutes ahnen ließen. Und in der That sollte Frankreich in allerjüngster Zeit zum Schauplatz der ruchlosen Dynamitattentate eines Ravachol werden. Es ist zu erwarten, daß die Regierung der Republik mit der nöthigen Kraft vorgehen wird, um diesen neuen Herd der Partei der Zerstorung zu unterdrücken.

Das sind in kurzen Umrissen fünfzig Jahre der Geschichte des Anarchismus; ein schauerlicher Beitrag zu den traurigen Verirrungen des menschlichen Geistes. Proudhon hat gesagt: „Sind die Ideen aufgestanden, so stehen die Pflastersteine von selbst auf, wenn anders die Regierung nicht vernünftig genug ist, sie nicht abzuwarten.“

In der That, die Anarchisten sorgen dafür, daß selbst den Blinden die Augen aufgehen und daß die Regierungen Maßregeln ergreifen, damit die Pflastersteine nicht von selbst aufstehen. Andererseits ist aber auch zu hoffen, daß mit der allmählichen Besserung der sozialen Lage, bei weiteren Fortschritten einer vernunftgemäßen Lösung der sozialen Frage auf der alten gesellschaftlichen Grundlage, die Erbitterung der Massen nach und nach schwindet und damit dem Anarchismus der Boden, auf dem er heute wuchert, entzogen wird. C. Falkenhorst.     



Onkel Christians sieben Lieben.

Erzählung von M. v. Dorsner.

Es war nach Lilis Hochzeit.

Wir hatten den Neuvermahlten zum Abschied das Geleite gegeben und standen nun auf der Terrasse – Onkel Christian und ich und die Geschwister alle, die von nah und fern gekommen waren zum Ehrentag der Jüngsten, unseres Lieblings. Und nun riefen wir und winkten noch dem entschwindenden Wagen nach, der sie uns entführte – „mit dem letzten Aufgebot aller disponiblen Kräfte“ hatte Bruder Edwin, der Generalstäbler, gerufen, während er lustig eine Serviette im Winde flattern ließ.

Sie waren alle in fröhlichster Stimmung, die Brüder, die Schwestern und Schwäger. Es war ja auch keine Trennung von unserer „Kleinen“; dort drüben auf der Höhe stand das stattliche Herrenhaus, das fortan ihr Heim sein sollte – und ein glückliches Heim, wenn nicht alle menschliche Voraussicht trog. Der lustige laute Nachklang des Hochzeitmahles und seiner schwungvollen Reden war somit berechtigt.

Nur mir ward es weh ums Herz, als ich das Schwesterlein lachenden Mundes an der Seite des fremden Mannes hinausfahren sah in die weite Welt – meine Lili, die ich fünfzehn Jahre lang gehegt und gehütet hatte wie mein Bestes. Ich fühlte, daß sich die Thränen gewaltsam vordrängten, und schlich hinäuf in das Erkerstübchen, um hier, fern von der lustigen Gesellschaft, in dem Raume, den wir all die Jahre gemeinsam bewohnt hatten – das „Kind“ und ich – den Thränen Audienz zu geben und all den Gedanken und Bildern auch, die wehmüthig und still vor meine Seele traten. das Bild des Vaters, der diesen Raum so liebevoll für mich geschmückt hatte, als ich, ein sechzehnjähriges Mädchen, aus dem Pensionat heimkehrte, um die fremde Mutter und das kleine blonde Schwesterchen auf dem Rüdenhof zu finden, und ihr Bild, das Bild der schönen bleichen Frau, welche so hilflos und fremd den ungezügelten Stiefkindern gegenübergestanden. Arme Mutter! So willig nahm sie den stützenden Arm der großen Tochter, und dann so bald, völlig gebrochen durch den plötzlichen Tod des Vaters, neigte sie das Haupt wie eine welkende Blume.

Da kam ihr Bruder, Onkel Christian, ihr zur Stütze, uns allen als Helfer. Seine Klugheit, sein milder Ernst löste jedes Wirrniß, jeden Zweifel, schaffte Ordnung unter den wilden Knaben, hob den Muth der verzagenden Mädchen.

Eines Tages trat er in dies Stübchen. Noch sehe ich ihn, den großen schlanken Mann mit seinen ruhigen und doch so leichten Bewegungen. Schmerzlich bewegt ergriff er meine Hand und führte mich hinab in Mamas Zimmer. Sie rang mit dem Tode, die arme Mutter, und daneben lag blond und rosig die kaum dreijährige Lili in süßem Schlummer! „Wir wollen treu zusammenstehen, Leonore,“ hatte der Onkel in seiner schlichten Art gesagt, „damit das Kind nie empfinde, daß es von früh an verwaist ist.“ Nach meinen besten Kräften habe ich das Gelöbniß gehalten, das ich dann in die erkaltende Hand der Sterbenden ablegte – ich habe Mutterstelle an Lili vertreten und, so gut es ging, an den anderen Geschwistern auch. Doch daß ich dies in meiner Jugend und Unerfahrenheit konnte, das verdankte ich Onkel Christians weisem treuen Rathe. Als unser aller Vormund nahm er sofort die Zügel der Verwaltung in seine feste Hand, im Hause aber ließ er mich schalten, mit unerschöpflicher Geduld unterstützend und belehrend, wo es noth that. Und Haus und Hof gedieh, und die Kinder entpuppten sich! Die jüngeren Schwestern wurden von meiner Seite weggeheirathet, die Brüder schieden einer nach dem anderen aus dem Hause, Edwin ging zur Armee, August auf die Hochschule. Endlich nahmen sie mir auch den blonden Egon, der durch seine zarte Gesundheit und sein weiches Wesen immer besonderer Pflege bedurft hatte.

Dabei flogen die Jahre dahin und nahmen meine Jugend mit sich. Manchmal freilich war es bis an mein Ohr gedrungen, ich sei eigentlich so übel nicht, wenn auch keine Schönheit wie Hilda und nicht so geistreich wie Jette, doch könne ich wohl diesem und jenem gefallen. Bei einem hätte ich das auch leiden mögen, wenn – ja, wenn! Aber ich hatte nicht Zeit zu eitlen Grübeleien. Lili war mir ja geblieben und Onkel Christians häufige Besuche, und die gute taube Miß Wood, die „Reliquie“, wie die Brüder sie nannten. Und dann die Wirthschaft und der zunehmende Briefwechsel! Du lieber Himmel, wo hätte ich da Muße finden sollen zu Jugendträumen, zu Hoffen und Harren? Die Jahre entschwanden auch gar zu schnell in der täglich sich erneuernden Sorge; ganz plötzlich war Lili unter meinen Händen zur holdesten Jungfräulichkeit erblüht, und „ach so bald, ach so balb!“ hatte es Nachbars Fritz entdeckt! Nun hatte ich auch dieses letzte und liebste Kind meiner Sorge ziehen lassen müssen!

Es überkam mich ein Gefühl der Vereinsamung und Leere. Was konnte ich nunmehr beginnen mit meinem verwaisten Leben? Ich trat vor den Spiegel. Mit grausamer Klarheit sagte er mir, daß mit vierunddreißig Jahren das Mädchen eine alte Jungfer ist. Ich bekenne, diese Selbsterkenntniß berührte mich heute unangenehm; so gern hätte ich zurückgreifen mögen nach den entschwundenen Jugendjahren!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_312.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2021)