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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Das Lächeln der Erlösung!“ Und Sephas Hand erfassend, sagte er: „Euer Kindlein ist heimgegangen zu seinem Schöpfer.“

„Ach Gott, ach Gott!“ schrie Gittli schluchzend auf. Wie von Sinnen stürzte sie dem Bett entgegen, doch ehe sie es erreichte, brachen ihr schon die Kniee, auf den Knieen rutschte sie weiter, schluchzend und schreiend, und mit Gesicht und Armen warf sie sich über die Füßchen ihres entschlafenen Lieblings: „Schatzi, mein Schatzi …“ In heißem Weinen erstickten ihre Worte.

Sepha stand noch immer wie ein steinernes Bild. Nun plötzlich rang es sich mit gellendem Schrei von ihren Lippen: „Mein Kindl!“ Mit beiden Fäusten stieß sie den Pater von sich, kreischend flog sie dem Bett zu, mit zuckenden Händen faßte sie das Kind, riß es halb aus den Kissen und rüttelte das zarte, wachsbleiche Körperchen, als könnte sie es gewaltsam wieder erwecken zum Leben. Dann wieder erlahmten ihre Glieder, starr quollen die Augen aus dem von Schmerz verzerrten Gesicht, und mit einem stöhnenden Laut, wie das gehetzte Wild ihn ausstößt, wenn es niederbricht inmitten der Meute, sank sie über das Bett, das Kind umklammernd. „Ja kann’s denn sein? Ja kann denn unser Herrgott so was zulassen! Mein Kindl! Mein Kindl! So was … so was muß über mich kommen! Ja warum denn? Warum denn? Warum denn?“

„Warum? Du armes Weib!“ Und Pater Desertus legte die Hand auf Sephas zuckende Schulter. „Tausende und Abertausende vor Dir haben diese Frage schon hinausgeschrieen aus brennendem Herzen, und keinem noch ist Antwort gekommen, weder aus der Höhe noch aus der Tiefe. Warum? Auf frühlingsgrüner Wiese steht eine Blume, hold und lieblich in ihren reinen Farben, in ihrem süßen Duft … wie ein gütiger Gedanke Gottes, der zur Erde niederflog und Wurzel schlug, um zu weilen als eine Freude der Menschen. Da kommt die Nacht mit ihrem tötenden Reif … ein Thier zieht über die Weide und tritt mit fühllosem Huf die erfrorene Blume in den Koth! Warum? Warum? – Auf sonniger Halde steht ein Baum, gesund und strotzend von Kraft; er hat geblüht in zahllosen Röslein, und nahe schon ist die Zeit, da er für treue Pflege danken will mit köstlichen Früchten. Doch vor der Ernte kommt der Sturm, ein Stoß nur, und der schöne stolze Baum liegt auf der Erde, verwüstet und gebrochen! Warum? Warum? – In weitem Feld steht die reifende Saat, getränkt vom Schweiße hoffender Menschen … der Hagel vernichtet sie. Warum? – In freundlichem Thal steht Hütte an Hütte; zufriedene, lachende Menschen unter jedem Dach … da brechen am Bergsee die steinernen Dämme, eine Stunde nur, und Trümmer und Leichen bedecken das Thal. Warum? – Redlichen Sinnes zieht ein guter Mensch seines Weges, sein Blick ist Treue, und Liebe jeder Schlag seines Herzens … da fallen die Wölfe über ihn her oder ein Blitz erschlägt ihn oder eine Brücke weicht unter seinem Fuß. Warum? – Es steht eine herrliche Burg, fest und stolz …“ die Stimme des Sprechenden verwandelte sich, klang dumpf und heiser … „in ihren Mauern wohnt das Glück, rein und heilig, wie es je noch hervorgegangen aus Gottes Hand. Aus ihrem Thor zieht ein glückseliger Mann … und da er wiederkehrt, dürstend nach dem Anblick seines Weibes, nach den süßen Augen seiner Kinder, findet er nur rauchenden Schutt und verkohlte Gebeine. Warum? Warum? Warum?“

Sepha richtete sich auf, verschlang die Hände, und zu dem Priester emporschauend, alle Verzweiflung ihres Herzens im Auge, schluchzte sie: „Ach, Herr, redet doch nicht so grausam und hart zu mir, sagt mir doch ein Wort des Trostes, nur ein einziges Wörtlein!“

„Ich weiß Dir keinen Trost, ich sehe Dein Kind und finde keinen. Nur eine Wahrheit kann ich Dir sagen, die ich erkannte mit blutendem Herzen: wer lebt, muß leiden, wer lacht, wird weinen müssen, und verlieren, wer besitzt!“

Sepha schlug die Hände vor das Gesicht.

Da klang aus der offenen Kammer eine Kinderstimme: „Muetterl!“ Und Lippele erschien auf der Schwelle, im langen Hemdlein, die runden Wangen hoch geröthet vom gesunden Schlaf, in der Hand ein hölzernes Pferdlein ohne Kopf und mit halben Beinen.

Sepha sprang auf, stürzte auf den Knaben zu mit schluchzendem Schrei und riß ihn empor an ihre Brust.

Pater Desertus war der Thür zugegangen; es schien, als wollte er sich noch einmal zurückwenden; aber schwer aufathmend deckte er die Hand über seine Augen und verließ das Haus.

Gittli lag noch immer auf den Knien, das Gesicht in die Arme gedrückt. Erst als Sepha nun wieder zum Bett trat, hob das Mädchen das Gesicht, schaute mit brennenden Augen und zuckenden Lippen zu der Schwäherin auf und schlug in hilflosem Schmerz die Hände ineinander.

Sepha kniete zur Seite des Bettes nieder, stellte den Knaben auf die Erde, und ihr Schluchzen mühsam bekämpfend, sagte sie: „Schau, Lippele … Dein Schwesterl … schau nur, schau … geh’, gieb ihr noch ein Handerl und sag’ zu ihr recht lieb: Behüt’ dich Gott, mein Schwesterl, du mein lieb’s!“

Lippele schaute auf das stille, wie im Traum lächelnde Kind, dann wieder auf die Mutter und fragte: „Warum denn?“

„Mußt nicht fragen, Lippele; thu’s nur, thu’s!“

Lippele streckte den Arm; doch als er die Kälte des starren Händchens fühlte, erschrak er und brachte kein Wort hervor. Aengstlich schaute er zu der Mutter auf und hob beide Hände nach ihr. Sepha umschlang ihn mit ihren Armen, der gewaltsam verhaltene Schmerz brach mit neuer Macht hervor aus ihrem gepreßten Herzen, und so kauerte sie schluchzend auf der Erde, das Gesicht des Knaben übergießend mit ihren Thränen.

„Muetterl, Muetterl,“ stammelte das Kind und begann zu weinen, weil es die Mutter weinen sah.

Gittli erhob sich und wankte in die Kammer; drinnen, am offenen Fenster, sank sie schluchzend nieder; mit breitem Strahl fiel die Morgensonne auf ihr gebeugtes Haupt.

Draußen im Freien webte der Glanz und Schimmer des Ostertages; die Albe rauschte, und in den Nachbarhöfen krähten die Hähne. Auf den Obstbäumen, deren Knospen schon zur Blüthe drängten, zwitscherten die Meisen und flogen ab und zu, Halme tragend für den Nestbau.




10.

Trotz der hellen Sonne, die der Ostermorgen gebracht hatte, brannte in der Stube des Eggebauern ein mächtiges Feuer im Lehmofen. Der Bauer saß hemdärmelig hinter dem Tisch, vor sich einen großen Napf mit Milchsuppe, die er gemächlich auslöffelte. Er war soeben – um die neunte Morgenstunde – mit Zenza aus der Messe zurückgekehrt. Das Mädchen stand, mit halblauter Stimme trällernd, vor dem in die Wand eingemauerten Zinnspiegel und durchflocht die blonden Zöpfe mit rothen Bändern.

„Heut’ hat es aber der Pater Hadamar scharf gemacht in der Predigt,“ sagte der Eggebauer nach einer stillen Weile.

Zenza lachte.

„Hast Dir gemerkt, was er gescholten hat über den Tanz?“

Wieder lachte das Mädchen und warf die Zöpfe über die Schulter zurück. „Jetzt tanz’ ich nur desto mehr. Und fest an halten thu’ ich mich auch … daß ich nicht ausrutsch’.“

Sprechen konnte der Eggebauer nicht, denn er hatte gerade den Mund voll; er drohte nur mit dem Löffel; dann schluckte er und lachte. Da klang aus der Kammer eine weinerlich kreischende Weiberstimme: „Zenzaaa!“

„Jjaah!“ rief das Mädchen unwillig zurück, trat näher an den Spiegel, nestelte an dem Veilchenstrauß, der im Mieder steckte, und zupfte die Kraushärchen in die Stirn.

„Hörst, die Mutter ruft!“ mahnte der Eggebauer.

„Hab’ schon gehört!“ sagte Zenza; aber sie rührte sich nicht von der Stelle.

Der Eggebauer seufzte und löffelte weiter.

„Bauer! Aber Bauer! So komm’ halt Du!“ klang es jetzt mit keifenden Lauten aus der Kammer.

„Ist das ein Weib!“ brummte der Eggebauer. „Nicht einmal beim Essen hat man seine Ruh’!“ Er schüttelte den Kopf, warf einen Erbarmen heischenden Blick zur Stubendecke, legte den Löffel nieder und wollte sich erheben.

Da klapperten draußen die Tritte genagelter Schuhe, und ein Schatten fiel durch das Fenster.

„Zenz’,“ sagte der Bauer hastig, „ich thu’ Dich bitten, geh’ hinein zu ihr und bleib’ bei ihr drin eine Weil’. Es kommt einer, mit dem ich zu raiten[1] hab’.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_300.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)
  1. Rechnen, ein Geschäft zum Austrag bringen.