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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

In der Stube erwachte das Weib; ein leises Stöhnen hatte sie geweckt. Sie lauschte … und da hörte sie es wieder. Es war das Kind.

„Katzi, was hast denn?“ fragte sie. Aber das Kind gab keine Antwort. Sepha war am Abend so schwach gewesen, daß sie sich nicht auf den Füßen erhalten konnte. Und jetzt mit einmal hatte sie Kraft. Mit stammelndem Laut sprang sie aus dem Bett. „Polzer!“ rief sie … in ihrem Schreck hatte sie ganz vergessen, daß Wolfrat nicht zu Hause war. Mit zitternden Händen tastete sie in der Finsterniß nach dem Feuerzeug; nur matte Funken brachte sie aus dem Stein, und der Zunder wollte nicht brennen. „Mein Gott, mein Gott, hätt’ ich mich doch nicht schlafen gelegt!“ jammerte sie. Bis lange vor Mitternacht hatte sie wach gesessen, dann war die Natur stärker geworden als ihr Wille. Gittli wollte die ganze Nacht bei dem Kinde bleiben, aber Sepha selbst hatte das Mädchen zur Ruhe geschickt. Das „Katzi“ schien ja so fest und gut zu schlummern! Freilich, es war ein böser Tag gewesen, der vorausgegangene, und bedrückten Herzens hatte Seph’ ihren Mann das Haus für die Nacht verlassen sehen; sie merkte es ihm auch an, daß er selbst nicht gerne ging. Wär’ es nur nicht um die paar Heller gewesen, die es zu verdienen gab! Als er schon den Hut auf dem Kopf, noch einmal mit der Hand über die Stirn des Kindes strich, da sagte er: „Gieb’ Dich, Seph’, gieb’ Dich, morgen soll’s besser sein!“ Seine Stimme hatte wohl gezittert, und dennoch hatte sein Wort so zuversichtlich geklungen! Vielleicht wußte er ein stärkendes Kraut oder eine heilsame Wurzel, die er von der Bergfahrt mit heimbringen wollte … vielleicht die „Nießwurz’“, die Wurzel der Schneerose. Von ihr hatte auch Gittli schon gesprochen …

Endlich war es ihr gelungen, Licht zu machen. Mit der flackernden Kerze leuchtete sie über das Bett und erschrak bis ins innerste Herz. Das Gesichtlein des Kindes kam ihr so verwandelt vor, als wäre das nicht mehr ihr eigen Kind, sondern ein fremdes. Sie taumelte zur Kammerthür und stieß sie auf.

„Gittli! Gittli!“

Das Mädcheu antwortete schlaftrunken.

„Ich thu’ Dich bitten, steh’ auf,“ sagte Seph’ mit tonloser Stimme, „das Kindl ist soviel ungut!“

Barfuß, das rothe Röcklein überwerfend, erschien Gittli unter der Thür.

„Da schau’ … mein Kindl, mein Kindl, mein Kindl!“ schluchzte Seph’ und hielt die Leuchte über das Bett.

Gittli beugte sich über das Kind und faßte sanft seine Aermchen, welche mit geballten Fäusten nach aufwärts lagen. „Mimmidatzi,“ flüsterte sie voll süßer Zärtlichkeit, „Mimmidatzi, kennst mich denn nimmer? Schau, die Dittibas’ ist bei Dir!“ … Eine Weile wartete sie vergebens auf Antwort. Dann rief sie noch einmal, alle Angst ihres Herzens in der Stimme: „Mimmidatzi!“

Ein kaum merkliches Zucken ging über das Gesicht des Kindes; ein leises Stöhnen, nicht wie in Schmerz, sondern wie von Sehnsucht quoll aus dem regungslosen, leicht geöffneten Mündlein … aber das Körperchen rührte sich nicht, das Köpfchen, umringelt vom goldblonden Gelock, lag starr auf die Seite geneigt, und unter den zarten halbgesunkenen Lidern blickten die einst so traulich und schelmisch leuchtenden Augen unbeweglich hervor, ohne Glanz und Leben.

„Ja mein Schatzi, mein lieb’s, ja was hast denn?“ stammelte Gittli, und dann, die Wangen von Thränen überronnen, schaute sie mit einem hilflosen angstvollen Blick in Sephas Gesicht.

„Mein Gott, mein Gott, wär’ nur der Polzer daheim!“ jammerte das Weib und sank neben dem Bett in die Knie. „Wenn er nur daheim geblieben wär’! Mein Gott, was thu’ ich denn? Mein Kindl, mein Kind! Ich weiß mir ja keinen Rath, ich weiß mir ja nimmer zu helfen! Was thu’ ich denn?“

„Schwah’rin, bleib’, bleib’ … ich lauf’ … und hol’ den Bader!“ schluchzte Gittli, und wie sie stand, barfuß im dünnen Röcklein, rannte sie davon.

Sie achtete auf dem Wege nicht der spitzen Steine, die sich schmerzend in ihre Sohlen drückten, nicht der Frische der Nacht, welche sie schauern machte, sie rannte nur und rannte, bis sie keuchend auf dem Marktplatz das Haus erreichte, in welchem der Bader wohnte. Wie von Sinnen schlug sie an der Thür den Klöppel, immerfort, so lange, bis sich im Obergeschoß ein Fenster öffnete.

„Wollt Ihr aufhören oder nicht! Was ist denn das für ein Lärmen in der Nacht!“ rief eine Männerstimme herunter.

„Ach, ich bitt’ Euch ... wir haben ein krankes Kind daheim!“ schluchzte Gittli mit aufgehobenen Händen. „Kommt doch, kommt, ich bitt’ Euch gar schön, ich bitt’, bitt’, bitt’!“

„Wer bist Du denn?“

„Die Gittli … die Schwester vom Sudmann Polzer!“

„Sooo?“ Der Name, den Gittli genannt, gab dem Bader zu denken. Ja, hätte sie nur den guten Einfall gehabt, hinauf zu rufen: ich bin die Zenza, die Tochter vom reichen Eggebauer ... dann hätte sie was erlebt, wie der Bader gesprungen wäre! „Sooo? … Also ja, gehe nur heim und sag’ ich komm’ schon, sobald es Tag wird.“

Klirrend schloß sich das Fenster. Gittli stand wie betäubt und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. War es denn möglich! Ein Kind … solch ein süßes, herziges Dinglein … und es gab einen Menschen, der sich nicht die Seel’ aus dem Leibe lief, um zu helfen!

Helfen? Helfen? Wer jetzt … wer? Pater Eusebius! Der hatte das Büblein des Klostervogtes wieder gesund gemacht. Gittli rannte und athemlos erreichte sie die Klosterpforte. Die Glocke läutete schrill, denn mit dem ganzen Gewicht des Körpers hatte sich Gittli an den Strang gehängt.

„Pater Eusebius … wo ist der Pater Eusebius!“ schluchzte sie, als sich das vergitterte Fensterchen öffnete.

„Ein Dirnlein! In der Nacht?“ rief staunend der Pförtner. „Was willst Du vom Pater?“

„Wir haben ein krankes Kind daheim … der Pater Eusebius soll ihm helfen. Ach, guter Frater Pförtner, ich bitt’ Euch, bitt’ Euch …“

„O Du mein Gott, Kind, den Pater, den holst Du heut’ nimmer … der ist seit zwei Tagen in der Bartholomäer Klause.“

Gittli mußte sich an die Mauer stützen, um nicht umzusinken.

„Aber sag’, was fehlt dem Kindlein?“

„Es rührt sich nimmer und sieht nimmer … und kennt mich nimmer … ach, Frater Pförtner, so ein liebes, gutes Kindl!“

„Mußt nicht weinen, Dirnlein, der liebe Gott wird schon helfen! und … wart’ ein Weilchen …“ Das Gesicht hinter dem Gitter verschwand, dann streckte sich eine Hand heraus mit einem kleinen Fläschlein. „Nimm, Dirnlein, nimm! Es ist das Beste, was ich hab’: Oleum Sancti Quirini[1] vom Kloster Tegernsee.“

Gittli griff zu mit beiden Händen.

„Reibe dem Kindlein die Stirne damit ein, und die Schläfe, und die Pulsadern an den Händen und die Stelle, wo das Herz schlägt, und bete dazu drei Vaterunser … das hilft! Das hat schon vielen Tausenden geholfen! Und jetzt geh’, Dirnlein! Gelobt sei Jesus Christus!“

„Amen!“ stammelte Gittli. Es war ein Laut voll heißen Dankes. Und schluchzend flog sie davon, aber sie weinte nicht mehr in Schmerz, sie weinte vor Freude. Was sie in Händen hielt und an ihr Herz drückte … es war ja die sichere Rettung: geweihtes heiliges Oel! Immer und immer wiederholte sie Wort um Wort. „Die Stirn, die Schläfe, die Adern, und wo das Herz schlägt“ … und damit sie nur ja mit dem Beten nicht zu kurz käme, fing sie jetzt schon an, während sie rannte und rannte. „Vater unser … der Du bist … im Himmel …“

Erschöpft, keines Wortes mächtig, erreichte sie das Haus.

Seph’ kam ihr entgegen, das Gesicht verstört, kalkweiß und von Zähren naß. „Kommt er? Kommt er?“

Gittli schüttelte den Kopf; sprechen konnte sie noch nicht; doch während sie die eine Hand auf die fliegende Brust drückte, drängte sie mit der andern schon das Fläschlein in Sephas Hande.

„Mein Gott, Gittli, so red’ doch!“ jammerte Sepha, „schau, die Angst bringt mich ja um!“

„Nimm … nimm … das muß ihm helfen! Das hat …

  1. Oel des heiligen Quirinus. – Eine halbe Stunde von Tegernsee, in dem Weiler St. Quirin, steht noch heute die Kapelle, welche über der wunderthätigen Quirinusquelle errichtet wurde; die Quelle liefert ein dünnes Erdöl, welches Jahrhunderte hindurch als heilsam für mannigfache Krankheiten galt und vom Kloster Tegernsee in Krügen und Fläschchen als kostbare Arznei an alle übrigen Klöster versendet wurde. Nach der Aufhebung des Klosters Tegernsee erlosch auch im Gebirgsvolk bald der Glaube an die Heilkraft der Quirinusquelle.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_298.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)