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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

zu wählen. Das Schreckgespenst des Staatsstreichs ist an die Wand gemalt.

So sieghaften Erfolgen erwächst nun ein mächtiger Verbündeter in der Person des Liedersängers Paulus, des Lieblings der Pariser, des Königs der Cafés chantants.

Es ist fast unglaublich, welche Macht der Popularisierung dieser französische Liedersänger besitzt. Er ist imstande, die blödsinnigsten Gassenhauer mit der größten Schnelligkeit von einem Ende Frankreichs zum andern zu verbreiten, so daß sie jede Magd in der Küche singt, jeder Gassenjunge auf der Straße pfeift. Aber noch niemals hat er mit einem Liede solchen Erfolg erzielt wie mit dem weltberühmten „En revenant de la revue“. Ein dümmeres Lied ist kaum je gedichtet worden, und auch die Melodie hat keinen andern Vorzug als den, daß man gut nach ihr marschieren kann. Sein Erfolg war nicht mehr dem demokratischen Gedanken allein zu danken – hier beginnt die Wirkung des Chauvinismus, der bis jetzt nur geheimnißvoll an der boulangistischen Legende mitgewirkt hatte, an die Oberfläche der Bewegung zu treten. Es war natürlich, daß es so kommen mußte.

Der Demokrat, welcher Kriegsminister geworden war, war zugleich Soldat, und weckt schon der Anblick jeder Fahne, jeder Uniform im leichterregbaren Herzen des Franzosen kriegerische Gelüste, wieviel mehr eine Uniform, die getragen wird von einem mit Begeisterung verehrten Manne, von dem man auch die innere Heilung der Republik erwartet. Der Jubel, mit dem allabendlich in der „Scala“ das Marschlied des Paulus begrüßt wurde, hat keinen poliaschen Charakter mehr, sondern entspringt rein patriotischen Gefühlen. Trotzdem das Lied keine einzige Anspielung auf die „große Rache“ enthält, die dem französischen Patrioten als leuchtendes Bild der Zukunft vor der Seele schwebt, schlummert doch die Revancheidee unter dieser Verherrlichung der Armee und ihres obersten Befehlshabers, und so kam es, daß der alberne Vers:

„Ma tendre épouse bat les mains
Ma bell’ mère pouss’ des cris
En voyant v’nir les Saint-Ciriens;
En regardant les spahis:
Moi je n’fais qu’ admirer
Le brav’ général Boulanger.“

[1]

von der Galerie der „Scala“ oft mit einem „à bas la Prusse“, „Nieder mit Preußen“, beantwortet werden konnte.

Vom Café chantant aus schreitet nun der Chauvinismus schon durch die Spalten der Zeitungen, die Gestalt Boulangers mächtig vergrößernd, seine kärglichen kriegerischen Verdienste ins Ungemessene übertreibend. Wie eine große Heldenthat preisen die Blätter des Generals – und eine große Anzahl in Paris und in der Provinz stehen ihm schon zur Verfügung – das lächerliche und ergebnißlose Duell zwischen ihm und Lareinty, welches die Folge jener Interpellation über die Ausweisung der Prinzen im Senat war. Schon zehn Tage nach der Komödie auf dem schwarzen Pferde schreibt Ph. de Grandlieu im „Figaro“ unter dem Titel „Boulanger c’est la guerre“ einen Artikel, in welchem folgende Worte vorkommen: „Man braucht nicht lange nachzudenken, um zu begreifen, daß der einzige General, der imstande ist, Frankreich endgültig zu meistern, derjenige ist, welcher dem trauernden Patriotismus die Genugthuung für Metz und Sedan verschaffen wird. Und das ist der Gedanke, der sich unter diesem Parade-Enthusiasmus verbirgt. Ja, dieser General will den Krieg, und, um ein Wort zu wiederholen, das, wie man mir versichert, ausgesprocheu worden sein soll, der neue Fructidor wird nur das Vorspiel sein zu einem zweiten Marengo.“[2]

In derselben Zeit erscheint eine Karikatur, die darstellt, wie Raben mit Pickelhauben auf den Köpfen von der französischen Grenze stieben, wo Boulanger als Vogelscheuche aufgestellt ist. Darunter stehen die Worte:

„Les vieux corbeaux Teutons semblent glacés d’effroi
Au moindre vent soufflant de Lorraine et d’Alsace;
Boulanger, ombre en chair, au ventre leur fait froid
Et c’est avec terreur qu’ils évitent la place.“

[3]

Ein Organ schafft sich der Chauvinismus im „Etendard“, der in blau-weiß-rothem Umschlag erscheint und gleichsam als Motto unter dem Titel „Le général Revanche“ ein im patriotischen Delirium geschriebenes Gedicht veröffentlicht. Ich will davon hier nur die letzten Strophen anführen:

„Tire nous de l’abîme ou notre orgueil se traine,
Conduis nos légions au glorieux chemin;
Rends nous l’honneur! Rends nous l’Alsace et Lorraine,
Reviens en ramenant les deux soeurs par la main.

Alors tu seras tout, tu seras l’aube blache
Que le pays attend sur le vieux RHin en feu;
Tu seras plus qu’un roi, tu seras plus qu’un Dieu,
Car tu seras la France, o général Revanche!“

[4]

Dieses Gedicht erschien ungefähr gegen Ende des Jahres 1886. Die Bewegung war auf ihrer Höhe angelangt. In der „Scala“ sang jetzt Marius Richard ein Lied, das allabendlich Stürme von Beifall entfesselte. In diesen Verseu feiert der Chauvinismus Orgien. „Ich will Deinen Namen nicht wissen,“ so heißt es darin, „wir nennen Dich Hoffnung, die Bräute bringen Dir ihre Verlobten, die Mütter ihre Söhne, die Matrosen kommen aus der Tiefe des Atlantischen Oceans und schwellen die Fluthen der Ostsee mit preußischem Blute.“ Die Soldaten schreien ihm „Vorwärts!“ zu und die Toten von 1870 versprechen ihm, ihn zum Gotte zu machen. Elsaß-Lothringen bittet ihn, es dem Vaterlande wiederzugeben. „Mit einem Blitze Deines Säbels,“ so heißt es zum Schlusse, „erwecke die Morgenröthe! Zeige unseren Fahnen den Weg zum Rheine! Erscheine! Wir erwarten Dich, General der Rache!“

Um dieselbe Zeit wird auf den Boulevards ein „Almanach du général Boulanger“ ausgerufen der einen Lebenslauf des Kriegsministers enthält, in welchem folgende Stelle bezeichnend ist: „Der General ist erfüllt von seiner Sendung, er fühlt, daß er die Keime unsres Schicksals und unsres zukünftigen Ruhms in der Hand hält, daß die Fahne, die man ihm anvertraut hat, noch die Spuren unserer Thränen trägt, und daß ein Tag kommen wird, an dem dies Symbol des zerrissenen Vaterlandes wieder aufleben wird in einer verheißenen Rache. Dazu müssen wir bereit sein; dazu müssen wir – und das weiß der Minister – ohne Rast arbeiten und schließlich aus allen Bürgern Männer, aus allen Männern Soldaten, aus allen Soldaten Helden machen.“

Nur die auffallendsten Auslassungen des chauvinistischen Boulangismus habe ich hier zusammengestellt. Die Zahl der in Zeitungen, Flugblättern, Broschüren erschienenen Ausgeburten des patriotischen Paroxysmus um die Wende des Jahres 1886 ist unübersehbar. Die boulangistische Partei war zu einer gefährlichen Masse angeschwollen, und schon konnte Rochefort, als die Stellung des Kriegsministers im Januar 1887 durch die Haltung des Parlaments gegenüber den ungeheuren Forderungen für die Armee erschüttert war, in seinem „Intransigeant“ mit der Revolution drohen. „An dem Tage, an welchem Boulanger gestürzt wird“ – so heißt es in einem Leitartikel des sozialistischen Blattes – „wird der Aufruhr durch Paris toben und die Armee wird nicht auf der Seite der Regierung stehen.“

In diesen ersten Monaten des Jahres 1887 unternimmt nun auch der Boulangismus seinen Flug in die hohe Politik. In boulangistischen Blättern zuerst wird der Gedanke eines Bündnisses mit Rußland ausgesprochen, der mit unbegreiflicher Macht das ganze Land begeisterte. Einen wie großen Einfluß auf die

  1. Das heißt in freier Uebersetzung:

    „Mein theures Weibchen applaudiert,
    Kommt der Kadett dahermarschiert;
    Der Schwiegermutter Auge glüht,
    Wenn reiten sie die Spahis sieht,
    Doch ich bewundre nur und seh’
    Den tapfern General Boulanger.“

  2. Bei Marengo erfocht Bonaparte nach seinem Staatsstreich den ersten Sieg gegen die auswärtigen Feinde Frankreichs, gegen die Oesterreicher.
  3. „Die alten teutonischen Raben, sie wollen vor Schreck schier vergehen,
    Wenn noch so leise die Winde aus Elsaß und Lothringen wehen;
    Ein Schatten in Fleisch und Bein, macht Boulanger, der Held,
    Sie klappern bis in die Knochen: sie räumen entsetzt das Feld.“

  4. „Rett’ uns vom Abgrund, schwer liegt unser Stolz danieder,
    Führ’ unser Heer den Pfad zum alten Ruhmesland,
    Gieb uns’re Ehre uns, Elsaß, Lothringen wieder;
    Die beiden Schwestern führ’ zurück an Deiner Hand.

    Dann wirst Du alles sein: der Morgenröthe Tagen,
    Die, heiß ersehnt im Land, durchflammt den alten Rhein;
    Kein König wird Dich dann, kein Gott selbst überragen,
    O General Revanche, denn Du wirst – Frankreich sein!“

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