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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Mißwirtschaft möglich wurde, die er bekämpfen sollte. Das mit Blindheit geschlagene französische Volk bemerkte gar nicht, daß sein Abgott seine Lebenskraft aus derselben trüben Quelle schöpfte, deren Verschüttung es von ihm erwartete. Er war damals – 1882 – Direktor der Abtheilung für die Infanterie im Kriegsministerium. Von seiner Vergangenheit wußte man wenig. Als Sohn eines Advokaten in Rennes im Jahre 1837 geboren, war er 1855 als Unterlieutenant in die Armee eingetreten, hatte in Afrika gegen die Kabylen, in Italien gegen die Oesterreicher gekämpft, war dann als Hauptmann den Kolonialtruppen nach Cochinchina gegangen und dort durch einen Lanzenstich verwundet worden. Im Kriege von 1870 kommandiert er das 114. Linienregiment bei der Vertheidigung von Paris. 1880 wird ihm die Führung der vierzehnten Kavalleriebrigabe übertragen. Im Jahre 1881 geht er als Chef der militärischen Gesandtschaft, welche die französische Regierung zur Jahrhundertfeier der amerikanischen Unabhängigkeit an die Vereinigten Staaten schickt, nach Amerika und tritt bei seiner Rückkehr in das Kriegsministerium ein. Es ist eine ziemlich schnelle, aber nicht ungewöhnliche Laufbahn, die hinter ihm liegt. Er hat sich überall tapfer und tüchtig gezeigt, wo er Gelegenheit dazu fand, aber sich vor anderen nicht in dem Maße als Stratege, Soldat oder Verwaltungsbeamter ausgezeichnet, daß seine Fähigkeiten zu großen Hoffnungen berechtigt hätten.

Als Direktor im Kriegsministerium begann er zuerst, die große Kunst zu üben, der er fast alle seine Erfolge verdankt, die Kunst, sich Freunde, sich Anhänger in allen Parteien zu verschaffen. Er benutzte den Einfluß seiner Stellung zu unerhörten Gunstbezeigungen; ihn hat niemand, selbst der Verdienstloseste nicht, vergebens um seine Huld gebeten. Nur unter einer so schwachen und selbst so zugänglichen Regierung war ein solches Treiben möglich. Als er im Jahre 1884 Divisionsgeneral in Tunis wurde, ließ er in Paris schon eine stattliche Schar von Bewunderern zurück, die ganz besondere Talente in ihm entdeckt zu haben glaubten, weil er ihnen nützlich gewesen war.

In Tunis nun fand er endlich die lang gesuchte Gelegenheit, von sich reden zu machen. Er reichte seinen Abschied ein, weil er dem Civilgouverneur unterstellt werden sollte. Und nun begannen die Freunde in Paris die Glocken für ihn zu läuten, an ihrer Spitze sein Duzfreund Clemenceau mit seinen radikalen Myrmidonen. So wurde er mit einem Male eine politische Persönlichkeit, weil sein Abschiedsgesuch den Kampf um ein politisches Prinzip entfesselt hatte.

In Deutschland ist die Ansicht ziemlich allgemein verbreitet, daß Boulanger seine Berufung ins Ministerium seinem Deutschenhaß, seiner Revanchesehnsucht, dem Chauvinismus der Franzosen verdanke. Diese Ansicht ist unrichtig. Boulanger wurde ins Ministerium berufen, weil man in ihm endlich einen demokratischen Kriegsminister gefunden zu haben meinte. Und auch der Ursprung seiner Volksbeliebtheit lag im Glauben an seine demokratische Gesinnung. Der Chauvinismus hat jene nur zu ihrer späteren Riesengröße angeschwellt. Als er im Januar des Jahres 1886 in das Ministerium Freycinet eintrat, begrüßten ihn die meisten republikanischen Blätter mit Sympathie, die radikalen aber mit einem wahren Triumphgeschrei. Nur das „Journal des Débats“ war empört, daß man das Portefeuille des Kriegsministers einem Radikalen ausgeliefert habe.

Die ersten Maßregeln, die Boulanger als Kriegsminister ergriff und über die soviel gespottet wurde, hatten alle ein demokratisches Gepräge. Wenn er den Soldaten erlaubte, einen Vollbart zu tragen, so ging er dabei von dem Gedanken aus, daß es eines freien Bürgers unwürdig sei, sich Vorschriften über die äußere Erscheinung machen zu lassen. Wenn er den Kasernen, die bisher die Namen Napoleon und Prinz Eugen getragen hatten, die Namen Bayard und Vauban beilegte, dann wollte er damit laut und deutlich seine republikanische Gesinnung bekunden. Wenn er den Unteroffizieren, Korporalen und Soldaten bis ein Uhr nachts Urlaub ertheilen ließ, so wollte er zeigen, daß die Offiziere in der Armee nichts vor ihren Untergebenen voraus haben sollten. Mit so großem Rechte sich auch die konservativen Blätter über diese Maßregeln lustig machten, ihre Wirkung war durch keinen Spott zu beeinträchtigen. Der demokratische General gewann sich durch sie die Herzen der Republikaner; denn man war der langweiligen Kriegsminister müde, die sich nur immer mit der Ausbildung und Organisation der Armee beschäftigten und dem republikanischen Geiste keine Huldigung darbrachten; man war froh, endlich einmal einen „politischen Kopf“ zum Kriegsminister zu haben. Und als nun in der Kammersitzung vom 13. März 1886 bei der Interpellation über das Verhalten der Soldaten gegen die aufständischen Kohlenarbeiter in Décazeville der General die denkwürdigen Worte sprach: „Vielleicht theilt jeder Soldat zur Stunde seine Suppe und sein Kommißbrot mit einem Bergmann,“ da konnte er schon auf eine ziemlich starke Partei im Lande zählen. Seine Rede in St. Cyr, wo er den Kadetten zurief: „Oeffnet Eure Herzen weit den Ideen Eures Jahrhunderts, laßt den Hauch des Fortschritts eindringen, der Eure Generation so hoch und so weit zu führen beginnt,“ seine Ansprachen bei Schützen- und Turnerfesten in Nantes und Limoges, in Romans und in Bourg, sie alle enthalten politische Anspielungen, wie man sie von Kriegsministern nicht zu hören gewohnt war. Und den Triumphen, die er an all diesen Orten feiert, weiß er meisterhaft durch die Presse ein weithallendes Echo zu geben. Schon wird seine Popularität den Republikanern bedenklich, und Ranc zuerst erhebt im „Matin“ seine warnende Stimme. „Die ganze republikanische Partei ohne Unterschied," so schreibt er am 16. Juli 1886, „wird nie einen General als Präsidenten der Republik noch als Ministerpräsidenten annehmen.“

Madier de Montjau dagegen, der greise Radikale mit dem jugendlichen Herzen, ruft in Valence bei einer Rede auf den auch dort gefeierten Kriegsminister unter stürmischem Beifall aus: „Nur der wird wirklich ein Volksheer schaffen, der auf der Tribüne gesagt hat, daß der Soldat sein Kommißbrot mit dem Arbeiter theilen würde.“

Nie hat ein Volk sich schwächlicher durch die Phrase und durch die Schmeichelei gefangen nehmen lassen als das französische durch Boulangers demokratische Allüren.

Schon ist seine Macht so groß geworden, daß er es ungestraft wagen kann, so hervorragenden Offizieren wie dem General Gallifet, dem Führer der todeskühnen Kavallerieattacke von Sedan, und dem General Saussier, dem Befehlshaber von Paris, öffentliche Verweise zu ertheilen. Ja er läßt diese Verweise – und dabei rechnete er auf den Eindruck, den alles Ungewöhnliche auf seine Landsleute zu machen pflegt – durch die offizielle Telegraphenagentur verbreiten und nun weiß er durch sein äußeres Auftreten der Begeisterung des Volkes immer neue Nahrung zu geben. Er ist ein guter, eleganter Reiter und erscheint bei der Parade in Longchamp auf einem herrlichen Rappen, dem so berühmt gewordenen Pferde, dem er, wie seine Gegner hehaupten, alle seine Erfolge verdankt. Man vergißt über diesem prächtigen Kriegsminister, der in der kleidsamen Generalsuniform so stattlich auf dem feurigen Araber die Front entlang sprengt, den unscheinbaren Grévy in seiner Präsidentenloge. Der eigentliche Vertreter der Republik an diesem Ehrentage ist der demokratische General. Und als er zurückkehrt vom Paradefeld, da umtobt ihn der tausendstimmige Jubel des Volkes. Nicht wie ein General, der eine Heerschau abgehalten hat, sondern wie ein Feldherr, der aus siegreichen Schlachten heimkehrt, reitet er durch den Triumphbogen in Paris ein. Diese Stimmung weiß er auszunutzen. Am 16. Juli weiht er den „Cercle militaire“ ein, einen Klub der Offiziere, der sich in der Bevölkerung einer größeren Beliebtheit erfreut als im Heere, und vor dem am Opernplatz gelegenen Gebäude läßt er Soldaten mit Fackeln vorbeiziehen. Der Pöbel von Paris dankt ihm für dieses Schauspiel mit einer jubelnden Huldigung. Am 17. Juli vergleicht der „Figaro“ schon die Stimmung der Bevölkerung mit der Begeisterung, die Louis Napoleon Bonaparte im Jahre 1850 entfesselt hatte, der „Soleil“ nennt die Huldigung vor dem Cercle militaire sogar die „Apotheose Boulangers“, und Delafosse schreibt in einem unter dem Titel „Vive Boulanger“ im „Matin“ erscheinenden Artikel, daß das Land in seinem Durste nach Abwechslung dem

General volle Freiheit gebe, zwischen Brumaire und Fructidor[1]

  1. Am 18. Fructidor des Jahres V (=4. September 1797) rettete die Direktorialregierung durch einen Staatsstreich die französische Republik vor dem Andringen der Royalisten. Am 18. Brumaire des Jahres VIII (=9. November 1799) stürzte, wiederum durch einen Staatsstreich, Bonaparte das Direktorium und machte sich zum Ersten Konsul.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_254.jpg&oldid=- (Version vom 12.8.2021)