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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

an zwei Uebeln: am Heimweh und am Fluche der politischen Berühmtheit!“

Ich war überrascht, den alten gemüthreichen, freundlichen Poeten so ernst reden zu hören über Verhältnisse und Anschauungen, die ich in der That nicht sofort begriff.

„Mag’s Ihnen als ein Vermächtniß erscheinen, wenn ich diese mitternächtige Stunde dazu benutze, mich meiner tiefsten Schmerzen einmal zu entladen. Wer weiß, mein Freund, ob wir uns jemals wiedersehen,[1] bleiben Sie mir gut und treu und denken Sie manchmal des ‚Alten‘ und dessen, was wir heute plauschen.“

Ich leugne nicht, daß ich noch nicht ganz verstand, wie diese Stimmung auf einmal über den Dichter kommen konnte, aber schon fuhr er fort: „Glauben Sie nicht, daß ich durch unser Gespräch vorhin, durch den Vortrag oder ein Glas Wein mehr erregt bin als sonst. Im Gegentheil! Ich fühle sehr ruhig und ernst in diesem Augenblick und möchte nicht verkannt sein, am wenigsten von Ihnen. Ich will Ihnen gerne gestehen, ich war wohl oft hart zurückweisend, wo ich hätte nachgiebiger sein müssen. Ich habe vielleicht selbst den Weg zurück nicht recht gefunden, aber das Unglück verbittert. Sehen Sie Karl Schurz an, er traf es besser mit dem Geschick denn ich. Sie haben, wenn auch jünger als ich, doch auch einen Eindruck aus dem Jahre meiner Schicksalswendung, aus dem achtundvierziger Jahre! Was haben wir denn andres gewollt, als was Ihr jetzt erreicht habt? Auf anderm Wege, ja! Ihr vielleicht auch auf richtigerem, und ich – wie herzlich fühle ich mit Euch – und doch, ich darf es kaum laut werden lassen!“

„Und weshalb nicht?“ wandte ich ein.

„Weil ich sonst mehr als jeder andre mit meiner Vergangenheit breche. Halten Sie das meinethalb für zu weit gehend, nennen Sie die Ansicht verschroben: aber ich und Spandau, wir sind so eng in der Meinung des Volkes verknüpft, daß, wenn ich heute zugestehe, damals geirrt zu haben, ich ein Leben lang umsonst Märtyrer meiner Ueberzeugung war, daß ich eine lange Zeit hindurch umsonst von meinem Volke als Opfer meiner politischen Anschauungen gefeiert, daß ich umsonst und zwecklos von ihm glorificiert worden bin. Das klingt Ihnen überraschend. Aber ich, ich fühle so und ich möchte das den Fluch der politischen Berühmtheit nennen. Ich mußte bleiben, was ich war, der Spandauer Verurtheilte und Geflohene, der seiner damaligen Ansicht Getreue, sonst wurde ich meinem politischen Namen und Ruf – mir selbst untreu. Verstehen Sie, was ich damit meine und wie ich gelitten habe? Könnte in der That jemand annehmen, daß ich nicht so tief wie andere an unseren letzten Siegen theilgenommen, daß nicht auch ich gleich meinen Brüdern die Heimgewinnung von Elsaß und Lothringen freudig begrüßt hätte? Aber – ich will’s nicht verschweigen, ich war trotzig und eigensinnig, ich vermochte kein öffentliches Bekenntniß mir abzuringen. Denn man amnestierte, man tolerierte, aber man sah in keinem einen so schlimmen Missethäter als in mir. Ich habe dem nie öffentlich Worte gegeben. Was hätte es auch genutzt? Aber manchmal tritt mir die Erwägung nahe: wäre es nicht vielleicht besser gewesen, wenn ich mein Schicksal in Spandau erwartet hätte? – Nehmen Sie Schurz! Er ward gleich mir verurtheilt! Ich sehe ihn eben lebendig vor mir mit seinen offenen Augen, seinem blonden Haare – hat er nicht in der Verbannung drüben über dem Ocean seinen Weg gemacht, sein Berufsfeld gefunden? Ist er nicht glücklicher geworden als ich? Behüte Gott, daß ich ihm das mißgönnte! Es hat mir nie im Leben ein Mensch größere Freundschaft und Anhänglichkeit bewiesen als er. Und trotzdem, ich werde den Gedanken nicht los, daß man mich bis zum Lebensende straft. Hier Schurz als Gast Bismarcks, der Revolutionär und der Junker – so müssen wir den bedeutenden Mann doch nennen – ich im Exil! Habe ich mich denn an meinem Vaterland so sehr vergangen? Wie steht sie vor mir, die Nacht des 6. November 1850 in Spandau! Und als ich an jenem 17. November von Warnemünde, dank der Liebe und Treue echter Freunde, auf der „Anna“ dahin schwamm und noch im Bereich meiner Verfolger war, schon damals wußte ich nicht, sollte ich mich freuen ob der Rettung, oder sollte ich trauern, daß ich wie ein Verbrecher, ein Ausgestoßener das Vaterland, die Heimath meiden mußte!“

Er schwieg, und das Wenige, was ich ihm erwidern konnte, schien für ihn ungehört zu verhallen. Er blickte starr vor sich hin, wie in die Vergangenheit versenkt.

„Jener Tag – 1858 in London – war es nicht eine Strafe, die mich durch den Tod meiner Johanna traf, härter als den schlimmsten Sünder je eine getroffen? Nicht, daß das Geschick nicht auch wieder Linderung für mich gehabt hätte! Aber wäre ich in Bonn geblieben, mein Londoner Geschick wäre in dieser Form nicht über mich gekommen. Und was that ich denn in jenem ernsten Jahre 1848? Wäre ich damals von der Bewegung zurückgetreten, als man mich warnte und zurückhalten wollte – würde es dadurch im allgemeinen anders, besser geworden sein? Hätte ein weniger mild Denkender als ich nicht schlimmere Wendungen herbeiführen können?“

Nach einer kleinen Weile setzte er wieder ein: „Ja, Freund, ich will nicht verhehlen, daß ich damals auch genügend persönliche Feinde hatte, daß ich durch sogenannte Preßvergehen mich bereits kompromittiert glaubte. Aber – haben wir uns damals auch in den Mitteln geirrt, so haben wir doch wie andere das Beste gewollt. Hier wie überall richtet der Erfolg. Haben wir gefehlt – ich habe schwer genug gebüßt! Und habe ich die Buße nicht auf mich genommen?“

Bei den letzten Worten versagte ihm fast die Stimme, so sehr überwältigte ihn die Erinnerung.

Eine große Pause trat ein. Ich wagte nicht, sie zu unterbrechen. Plötzlich sprang er auf, als wolle er die Erinnerung verscheuchen, und stand hochaufgerichtet vor mir.

„Denken Sie an meinen ‚Otto der Schütz‘ – als ich ihn veröffentlichte, wie jubelte da noch die Schaffensfreudigkeit in mir, wie freundlich nahm ihn das Volk auf, wie daseinsfroh stimmte mich selbst der Sang und sein Erfolg. Und nun? Ich habe wohl Besseres nach dem gedacht und geschrieben, aber – ich habe gleichen Erfolg nicht mehr erreicht. Mein politisches Schicksal, die Märtyrerrolle, das eigenthümliche Relief, welches mir das Geschick verlieh, das alles hat meine späteren Leistungen litterarisch in den Schatten gestellt! Durch den früheren Ruhm ist mein Alter weniger bedeutungsvoll geworden, als ich erstrebt und verdient hatte. Ja, man hat den ‚Alten‘ vielfach geliebt, und gar mancher hat ihn hochgestellt“ – er reichte mir die Hand über den Tisch – „aber man hat ihn viel zu früh zum Alten gemacht, und das Schicksal hat dazu redlich geholfen.

Komme ich jetzt im wirklichen Alter zum Rhein – o, ich mache keine Ausnahme, ich bin ein Menschenkind wie andere, habe Fleisch und Blut wie sie – dann taucht die Jugendzeit mächtig vor mir auf, dann seh’ ich den kleinen Pfarrgarten in Oberkassel allüberall vor meinem geistigen Auge – dann möchte ich manchmal nicht der sein, der ich bin, sondern der Kinkel jener Tage. Warum hat man mich nicht heimgerufen? Konnte ich mein Lehramt nicht im Vaterland üben? Ich weiß, nicht die Pfalz allein, nicht Siegburg, Bonn und Köln bloß, auch meine amerikanische Reise wurde mir verargt. Aber für erstere Unthaten hatte man mich doch freigesprochen! Und Amerika? – Kennt jemand die Sorgen und Mühen, die es kostet, im fremden Lande Weib und Kind zu erhalten? Mußte ich nicht doppelt für alles büßen? Ich las seinerzeit den Aufruf, den Sie mit Rittershaus’ Gedicht für unser nationales Denkmal in der ‚Gartenlaube‘ veröffentlichten. Wie soll ich Ihnen schildern, was ich damals bei der Durchsicht desselben empfand! Hätte ich mich öffentlich dazu geäußert, mein Freund, hätte das nicht ausgesehen wie ein pater peccavi, wie eine Abbitte! Stolz und Ueberzeugung kämpften in mir. Ja, ja, ich war trotzig mein lebenlang, und das steckt uns rheinischen Jungen wohl so im Blute – ich wiederhole – ich vermochte vielleicht den Rückweg nicht zu finden! Ich litt unter dem Banne der politischen Berühmtheit!

Aber – wie ich damals in Köln meinen Anklägern zurief so denke ich noch: Wenn Preußen eine starke und kühne Politik verfolgt, wenn es ihm gelingt, Deutschland in eins zu schmieden und groß und geachtet vor allen Nationen hinzustellen, wenn es ihm gelingt, innere Freiheit zu sichern, Handel und Wandel zu beleben, den Armen im Volke Brot zu schaffen, dann – bei meinem Eide, die Ehre und Größe meines Vaterlandes stehen mir höher als meine Ideale von Staat – – und weltlichen Einrichtungen!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_242.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2020)
  1. Es war am Abend des 27. März 1882, am 12. November desselben Jahres starb Kinkel unerwartet.