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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Englischer Osterbrauch: Das Schuhausziehen.
Nach einer Zeichnung von W. Zehme.


an Häuschen und von der Höhe nieder winkte der schlanke Kirchthurm und der mächtige, weit ausgedehnte Bau des Klosters mit hundert funkelnden Fenstern. Haymo überschritt auf hölzerner Brücke die Albe und gelangte zu einem riesigen Holzgebäude. Es war das Salzhaus, die Goldschmiede des Klosters, welche die Dukaten in so schöner Menge lieferte, daß in kaum zweihundert Jahren die arme Martinsklause zu Berchtesgaden das reichste Kloster weit und breit geworden war. Alle Fürsten zankten sich um die Hoheitsrechte über die reiche Propstei, und die Erzbischöfe zu Salzburg machten scheele Augen.

In langer Reihe standen die Frachtwagen und Saumpferde aus aller Herren Ländern vor dem Salzhaus, und ein Frater in geschürzter Kutte verzeichnete auf einem Täfelchen jeden Sack, der von den Knechten zum Verladen herbeigetragen wurde. Auf einem Seilzug, der über die Albe gespannt war, kamen die in Rollen laufenden Kufen mit dem Rohsalz knarrend einhergezogen. Dort drüben lag der Salzberg, in dessen tiefen Schachten das Steinsalz von den Klosterknappen gefördert wurde. Dann kam es in die Pochmühle, aus der Mühle in die Solwannen, und aus der gesättigten Sole wurde das reine Salz in mächtigen Pfannen wieder ausgekocht. Sogar in der Charwoche durften die Feuer nicht erlöschen. Wie fleißig der Sud betrieben wurde, das verrieth der weiße Dampf, der in dichten Wolken aus allen Luken des Daches, aus jedem Thor und allen Fenstern des Salzhauses qualmte.

Da drinnen in der brütenden Hitze mochte kein gutes Weilen sein: das meinte Haymo dem Sudmann anzusehen, welcher eben, triefend von Schweiß, aus einem der Thore trat, um frische Luft zu schöpfen; er war nur mit einer blauen Leinenhose bekleidet, Oberkörper und Arme waren nackt und von der Hitze geröthet wie ein Krebs, der aus dem siedenden Wasser auf die Tafel kommt. Eine wuchtige Gestalt, Muskeln und Arme wie aus Bronze gegossen, ein Stiernacken, ein klobiges Haupt mit kurz geschnittenem, röthlich braunem Haar; der struppige Bart hatte die Wangen fast bis zu den Augen überwachsen; dadurch bekam das Gesicht einen wilden, finsteren Ausdruck, der durch den verdrossenen Blick der grauen Augen noch verschärft wurde.

„Wolfrat!“ rief eine herrische Stimme im Innern des Salzhauses, und der Sudmann verschwand im Thor.

Wolfrat? … Dieser Mensch sollte Gittlis Bruder sein? Haymo schüttelte lächelnd den Kopf; er stellte die beiden im Geiste nebeneinander. Das waren zwei Geschwister, von denen eins zum andern paßte wie der Eichbaum zur Heckenrose, wie der Bär zum Reh, oder … der Volksmund pflegt zu sagen: wie die Faust aufs Auge!




4.

Als Haymo durch die Pforte der Klostermauer trat, scholl vom Kirchplatz herab ein lautes Knattern und Gepolter. Das waren die hölzernen „Ratschen“, welche zur Messe riefen; während der Passionstage dürfen ja die Glocken nicht geläutet werden, denn ihre klingenden Seelen, so geht die Sage, ziehen nach Rom, um vom heiligen Vater gesegnet zu werden; und erst in der Osternacht kehren sie zurück in ihre ehernen Leiber, um schwebenden Schalles die Auferstehung des Erlösers zu verkünden.

Ueber Felsstufen und gewundene Wege stieg Haymo den Hang des Hügels empor, auf dessen Kuppe das Kloster stand. Das ganze Gehänge, einst mit Felsklötzen besät und von wirrem Gestrüpp überwuchert, war in einen herrlichen Garten verwaindelt, mit zahlreichen Blumenbeeten, Baumgruppen und säuberlich gehaltenen Pfaden. Wohl war der Garten um diese frühe Jahreszeit noch arm an Grün und Blüthen, aber was mußte das im Sommer für eine Pracht und Freude sein! Frater Severin, der Gärtner, verstand seine Kunst; das mußte auch der Neid bekennen!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_237.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2023)