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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

erst die Stärke des Seils, rief Bettina zu, sie solle den Körper von der Wand abhalten, und nun warf er sich der Länge nach zu Boden und zog, vorwärts kriechend, die theure Last empor. Er hatte das Ende des Seils mit dem Querholz unter die linke Schulter genommen und verschaffte sich einen Halt an den Büschen, die mit ihren Dornen ihm die Hände zerrissen. Die Angst, daß das Seil reißen oder der Knoten sich lösen könne, die ungeheure Anstrengung machte ihn zittern; die Minuten dehnten sich zu Ewigkeiten. Endlich ertönte der Ruf: „Lassen Sie los, ich stehe auf festem Boden!“ Mit einem Jubelschrei sprang er auf die Füße und schloß die Gerettete in seine Arme. Und Bettina, welche bis zur vollendeten Rettung mit Anspannung aller seelischen und körperlichen Kräfte der furchtbaren Gefahr getrotzt hatte, fühlte sich jetzt einer Ohnmacht nahe, ein müdes Vergessen befiel sie. Der süßen Mattigkeit nachgebend, ließ sie den Kopf gegen Rotts Schulter sinken, und wie im Traume vernahm sie das Geständniß seiner Liebe. Sie wehrte seine Liebkosungen nicht ab und hatte doch keinen Laut der Erwiderung auf sein Bekenntniß; sie duldete es auch, daß er sie zuletzt auf seine Arme hob und zu einer alleinstehenden Buche trug. Dort setzte er die süße Last nieder, sank in die Knie und rief mit erschütternder Klage: „Rede, Bettina, rede! Ich liebe Dich, liebe Dich unaussprechlich und müßte verzweifeln, wolltest Du mich verstoßen. Sag’ ein Wort, ein einziges Wort, das den Zweifel verscheucht! Es wäre unmenschlich, wenn Du in dieser Stunde das heiligste Gefühl niederdrücken würdest um äußerer Bedenken willen.“

„Ich kann’s auch nicht,“ erwiderte sie leise, und ihre Hände glitten über sein volles Haar. „Alle Willenskraft ist in mir gelähmt, und ich muß es Dir sagen. Dein Geständniß macht mich glücklich, Franz!“ Sie beugte lächelnd den Kopf zu ihm nieder und drückte einen Kuß auf seine Stirne.

„Bettina! O, Bettina!“ Mehr konnte er nicht erwidern.

Eng aneindergeschmiegt, saßen sie wortlos da und sahen hinaus in die träumerische Nacht. Versunken war mit einem Male die irdische Noth, jeder Gedanke an Vergangenes und Zukünftiges schwand aus ihren Seelen, und als der laue Nachtwind ihre Wangen kühlte, als der Mond seine flimmernde Lichtstraße auf das dunkle Meer warf, da war es ihnen, als trage sie ein guter Genius zu fernen Welten.

„Welch’ eine Nacht ist dies!“

Bettina sprach es; sie versuchte ihrer Bewegung Herr zu werden und wollte sich erheben. Ein brennender Schmerz am Knie erschwerte ihr das Aufstehen. Sie hatte sich offenbar beim Niederstürzen verletzt und konnte ohne Rotts Beihilfe die Klause nicht erreichen. So nahm sie denn den Arm des Geliebten, der sie sicher geleitete.

Auf der dunklen Veranda tauschten sie die letzte Umarmung, den letzten Kuß, und wie sie dann noch einmal zum sternbesäten Himmel aufschauten, da klang es wie aus einem Munde:

„Welch eine Nacht!“




15.

Die Mondnacht hatte den Liebenden die Freiheit des Traumes gegeben, der Tag trieb sie zurück in die Enge der starren Wirklichkeit. Bettina konnte sich am Morgen nur schwer bewegen; ihr Gesicht war blaß und ihre Haltung so gebeugt, als werde sie von unsichtbaren Fesseln gehalten. Auf die mißtrauische Frage der Schwiegermutter, was ihr sei, gab sie den Aufschluß, sie sei bei einem Gange zum Höwt ausgerutscht und gefallen.

Die bevorstehende Wiederbegegnung mit Rott machte sie unruhig. Sie fühlte ihr Gewissen nicht belastet, aber die Frage, was nun geschehen werde, erfüllte sie mit Bangigkeit.

Rott hatte seiner Gewohnheit gemäß in der Morgenfrühe gebadet und bei der Rückkehr vom Strand den Weg übers Höwt genommen. Als er zur Buche kam, fand er daselbst den Schullehrer, welcher kopfschüttelnd das an der Erde liegende Rettungsseil betrachtete.

„Gehört Ihnen das Seil?“ fragte Rott unbefangen.

„Nein, aber ich zerbreche mir mit der Frage den Kopf, wie der Strick hierher gelangt sein kann, denn gestern abend saß der Pflock noch in der Wiese und diese Schlinge war am Halse von Bräunings schwarzem Hammel befestigt. Jetzt vergnügt sich besagter Hammel in meinem Kleefeld, wollte mir jemand einen Schabernack spielen, so soll den Kerl – –“

„Schleudern Sie keinen Fluch und Bannstrahl,“ unterbrach ihn Rott lachend, „denn ich bin der Urheber des Unglücks und will gern dafür aufkommen. Genügen fünf Mark Entschädigung dafür, daß sich der befreite Hammel über Ihren Klee hergemacht hat?“

„O, bitte, das ist weit mehr, als ich annehmen darf,“ wehrte der Lehrer, allein da Rott ihm das Geld ohne weiteres in die Rocktasche schob, so nahm er es dankend an. Dann hob er das Seil auf und bemerkte mit pfiffigem Lächeln. „Nun weiß ich aber noch nicht, wie ich dem alten Bräuning erklären soll, daß sein Hammel in mein Kleefeld gerathen ist.“

„Ich überlasse es Ihnen, die Erklärung zu geben. Vielleicht nehmen Sie an, ich hätte mich in einer Anwandlung von Lebensüberdruß an einem Ast der Buche aufknüpfen wollen und zur Ausführung den Muth nicht gefunden.“

Rott grüßte lachend und schritt der Klause zu. Er fand Bettina im Salon. Sie streckte ihm vom Sofa aus, auf dem sie lag, die Hand entgegen und eine zarte Röthe breitete sich über ihr blasses Gesicht. Er küßte ihre schlanke Hand und sah sie mit glückstrahlenden Augen an.

„Guten Morgen, Franz,“ sagte sie leise und lächelte. „Bei Deinem Anblick fühle ich wieder Muth.“

„Warst Du verzagt?“

„Ja! Als ich heute morgen erwachte, da erschienen mir die Vorgänge dieser Nacht wie ein böser Traum, und mit erdrückender Gewalt beherrschte mich das Bewußtsein meiner verzweifelten Lage. Wie lassen sich die Fesseln lösen, wie gelange ich aus dem Wirrsal heraus? Mit dieser Frage peinigte ich mein armes Gehirn. Dazu kam der körperliche Schmerz infolge des gestrigen Falls. Ich werde einige Tage lang das Zimmer hüten müssen, fürchte ich. Ach, Franz, wie bangt mir vor der Zukunft!“

Er sah sie ernst und forschend an. „Machen wir uns eines klar, Liebste! Hat der Tag wirklich an unsern Gefühlen nichts geändert, oder war das, was uns gestern bewegte, nur der Ausfluß einer augenblicklichen Aufwallung?“

„Auch ich habe diese Frage erwogen, denn ich bin im Laufe der letzten Jahre recht zweifelsüchtig geworden. Aber ich kann nicht anders fühlen als gestern – ich müßte sehr unglücklich werden, könnte ich Dir nicht angehören, Franz!“

„Nun, so sind wir einig, und der alte Spruch von der allesbesiegenden Liebe wird sich hoffentlich auch hier bewähren. Laß uns berathen, was wir nach Monks Rückkehr zu thun haben.“

„Das scheint mir sehr einfach zu sein. Ich muß Ewald so schonend, aber auch so offen wie möglich die Wahrheit bekennen und ihn bitten, mich freizugeben. Was ich an Geld und Gut besitze, mag er behalten!“

„Aber wenn er sich weigert, Dich gehen zu lassen?“

„Welchen verständigen Grund könnte er haben, mich elend zu machen und sich selber? Er liebt mich nicht mehr – wenn er es überhaupt je gethan hat!“

„Das Menschenherz ist wunderlich. Oft wirkt der Gedanke an den Nebenbuhler wie ein starker Wind, der das verglimmende Feuer der Liebe zur lodernden Flamme anfacht. Und wenn nun Monk sich weigerte, Dich freizugeben, hättest Du dann den Muth, ihn zu verlassen und zu versuchen, Deine Ehe mit ihm zu lösen?“

„Ich will alles thun, was unsre Liebe fordert.“

Nach dieser Entschließung sehnten die Liebenden eine rasche Entscheidung herbei, allein ihre Geduld wurde einer harten Prüfung unterworfen, denn von Ewald traf am folgenden Tage ein Brief ein, daß er mit der Barke in See gegangen sei, um in Kopenhagen eine Ladung für Danzig einzunehmen. Ob er von dort nach Massow zurückkehren werde, hänge von den Aufträgen der Kaufleute ab.

Als Bettina das mit den plumpen Schriftzügen ihres Mannes bedeckte Papier weglegte, sagte sie schwermüthig: „Unser Geschick wird schwerlich vor Ablauf des Sommers entschieden werden.“

„Nun, was liegt daran! Mich macht es schon unsagbar glücklich, nur in Deiner Nähe leben zu können.“

„Auch mich! Allein der Gedanke an die Zukunft liegt über unserem Glücke wie eine gewitterschwere Wolke.“

„Warum das Unglück fürchten, ehe es uns trifft? Betrachte Du jeden Tag als ein gütiges Geschenk und genieße ihn froh und harmlos! Der Sommer gehört uns, seien wir dem Geschick dafür dankbar!“

„Du drehst den Spruch um: ‚Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst‘, Du nimmst Deine Kunst sehr ernst und suchst dem Leben die heiterste Seite abzugewinnen.“

„Vielleicht doch nicht, ich habe mich nur gewöhnt, von den

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