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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

man des Abends von der Stadt aus wie einen Sternenhaufen durch das Dunkel glänzen sieht, genießt man einen unvergleichlichen Blick auf Wien und die Gebirgswelt gegen Süden. Hier ruht die stolze Schöne, das Haupt an den Berg, ihren natürlichen Beschützer, geschmiegt. Dies Amt hat er schon einmal mit echter Vasallentreue ausgeübt – damals, als der freche Türke gierig ihren edlen Leib umklammerte. Gleich einer Wetterwolke stürmten die lothringischen Panzerreiter, die wackeren Schwaben, Sachsen und Bayern, sowie das polnische Hilfsheer in die Barbarenhorden und retteten die bedrängte Stadt und mit ihr die Christenheit vor Schmach und Verderben. Ein Kranz von Wäldern schmückt dieses Haupt; wie ein Gürtel von Edelsteinen schimmern die Paläste und Prunkgebäude der Ringstraße hervor, und der Stadtpark ruht wie ein duftendes Sträußlein an ihrem Busen.

 Blick auf den Leopoldsberg
  und das Kahlenbergerdörfl.
Der Kahlenberg. 
Leopoldsberg.

Eine halbe Stunde Wegs durch Wald und über Wiesengründe führt uns in einer muldenförmigen Einsenkung zum Leopoldsberg, dem äußersten Ausläufer der Alpen. An der Stelle, wo einst das Schloß der Babenberger Herzöge stand, erhebt sich ein ehrwürdiges Kirchlein, das Leopold I. erbauen ließ zum Andenken an die Befreiung Wiens von den Türken. Unter uns breitet sich der mächtige Strom aus, gegen Westen in zahlreiche Arme mit buschigen Auen verzweigt, gegen Osten in einem einzigen breiten Bette majestätisch dahinfließend. Wie ein einsamer Wachtposten steht der rebengeschmückte Bisamberg, einstmals wohl mit der Hauptkette verbunden, jenseit des Stromes im weit ausgedehnten Marchfelde, dessen zahlreiche Dörfer und Gehöfte von den goldenen Aehrenfeldern sich abheben; Aspern und Eßlingen befinden sich darunter, Namen, welche das Herz jedes Deutschen höher schlagen machen. Unweit davon bemerkt man die bewaldete Insel Lobau, die bei dem mehrtägigen Ringen mit der Macht des Korsen den Schauplatz der erbittertsten Kämpfe bildete.

Zu Füßen des Leopoldsberges gegen Westen breitet sich das stattliche Klosterneuburg aus mit dem altehrwürdigen Chorherrnstifte, dessen imposante, kuppelgeschmückte Bauformen weithin durch das Donauthal sichtbar sind. Mehr noch als das uralte Stift und das Grabmal des Stifters, Leopolds des Heiligen, lockt den Wiener der „gute Tropfen“, welchen die umfangreichen Keller dort enthalten. Lustige Wallfahrer ziehen an jedem Sonntag in hellen Scharen herbei. Am 15. November jedoch, dem Namenstag des Heiligen, der auch der Schutzpatron von Niederösterreich ist, giebt es eine Völkerwanderung, die Eisenbahn und Dampfschiffe nicht mehr zu bewältigen imstande sind. Der Respektsbesuch bei dem Heiligen ist bald abgethan; dann überläßt sich das Völkchen bei Wein und Gesang seiner ungebundenen Fröhlichkeit. Den Höhepunkt des Gaudiums bildet das beliebte Fäßlrutschen, eine uralte Sitte, zu der sich der Wiener drängt, weil ihre Ausübung für ein echtes Kind der „enteren Gründe“ ebenso verdienstlich ist wie die Mekkafahrt für einen rechtgläubigen Muselmann. In einem der Keller befindet sich nämlich ein Riesenfaß, das 999 Eimer hält. Durch eine Treppe gelangt man auf den Rücken desselben, während man auf der andern Seite hinuntergleitet. Jung und alt, Männlein und Weiblein wetteifern um die Ehre, von diesem Fasse herabrutschen zu dürfen.

Von Klosterneuburg führen bequeme Straßen in das reizgeschmückte Weidlingthal und in das schöne, um seiner windgeschützten Lage willen gern von Brustkranken aufgesuchte Kierlingthal. Einen romantischen Abschluß gegen Westen bildet die Berghöhe mit der malerischen Burg Greifenstein. Die alte Beschließerin, welche die sehenswerten Zimmer zeigt, versichert zwar jeden Besucher, daß Richard Löwenherz hier in einem finsteren Loche gefangen gesessen habe, dies ist jedoch eine fromme Lüge, erdacht, um den Nimbus des Ortes zu erhöhen. Richard Löwenherz saß in der weiter oberhalb am linken Ufer der Donau gelegenen Feste Dürrenstein in ritterlicher Haft. Hätte der edle BrittenkÖnig geahnt, daß es dorthin den Wienern zu weit sein würde, so hätte er vielleicht Greifenstein vorgezogen. Aber wer kann auch an alles denken!

Beethovens Denkmal bei Heiligenstadt.

Ein Gewoge von bewaldeten Kuppen schließt sich gegen Südwesten an die beiden Berge an. Viele dieser Höhen sind den Wienern wohlbekannt und ein häufiges Ziel ihrer Fußwanderungen. Schattige Wege, anheimelnde Wirthschaften, prächtige Aussichtswarten erhöhen den Genuß solcher Ausflüge. Der Hermannskogel, der Tulbingerkogel, der Troppberg, die Sophienalpe, der Anninger bei Mödling, das Eiserne Thor bei Baden gehören zu den beliebtesten Aussichtspunkten. Zwischen diesen Höhen sind anmuthige Thäler mit freundlichen Ortschaften eingebettet, die den Wienern die reizvollsten und abwechslungsreichsten Sommerfrischen bieten.

Unmittelbar an die ausgedehnten Vororte schließen sich diese Sommerfrischen an. Ein starker Eisenbahn-, Tramway- und Stellwagenverkehr vermittelt die Verbindung der kühlen, schattigen Landsitze mit der Residenz. Viele derselben sind mit dem Riesenkörper so innig verwachsen, daß sie in das nun zur Thatsache

gewordene Groß-Wien einbezogen worden sind. In kaum einer halben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_146.jpg&oldid=- (Version vom 29.10.2019)