Seite:Die Gartenlaube (1892) 144.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Vor den Thoren Wiens.

Von V. Chiavacci.0 Mit Zeichnungen von W. Gause.

Die reizgeschmückten Berg- und Hügelketten, die der Wiener Wald bis an die Donau vorgeschoben hat, bilden für die alte Kaiserstadt eine Umgebung voll entzückender Naturschonheiten. Von den waldigen Kuppen des letzten Ausläufers der Alpen senken sich die Berge in sanften Linien in die Ebene des Wiener Beckens. Ein liebliches Hügelland, dessen Abhänge mit köstlichen Reben bepflanzt sind und aus dessen üppigem Grün hellschimmernde Dörfer, prunkvolle Schlösser und zierliche Sommerhäuser hervorlugen, bildet den unvergleichlichen Rahmen Wiens gegen Südwesten. In die zahlreichen Seitenthäler zwängen sich die Vororte und Landgemeinden Wiens mit malerischen Villen und schattigen Gärten. Sie klimmen hinan mit ihren Häuserzeilen, Gehöften und Landsitzen bis dorthin, wo der Wald beginnt. In den Falten und Einsenkungen dieses Hügellandes entwickeln sich Landschaftsbilder voll anmuthigen Reizes und malerischer Schönheit.

Der Fremde, der von Norden her die Stadt und ihre Umgebung zum ersten Male erblickt, hat die schön geschwungenen Linien der Bergrücken zu seiner Rechten, den Kahlenberg und Leopoldsberg mit ihren charakteristischen Dörfern, das mächtige Strombild zu seinen Füßen. Das Gewoge von Bergen gegen Süden, das bis zu dem 2075 Meter hohen Schneeberge ansteigt, die weiten fruchtbaren Ebenen des Marchfeldes und des Wiener Beckens, die sich bis an die Kleinen Karpathen und das Leithagebirge erstrecken, gewähren einen Anblick voll Schönheit und Lieblichkeit.

In der „Güldenen Waldschnepfe“.

Den vollsten Genuß dieses Gesammtbildes erhält der Fremde durch eine Fahrt auf den Kahlenberg, zu dem eine Zahnradbahn von Nußdorf emporführt. „Zähneknirschend“ setzt sich der Zug in Bewegung und keucht mühselig die steilen Hänge hinan. Anfangs geht der Weg durch üppige Weingärten; die Bodengestaltung hindert noch den Blick ins Weite; aber nach wenigen Minuten entwickelt sich das Bild immer schöner und mannigfaltiger. Links unten das Häusermeer mit den zahlreichen hervorragenden Prunkbauten. Ganz deutlich hebt sich die Ringstraße mit ihren gewaltigen Häuserfronten heraus. Die Votivkirche, die schönen Kuppeln der Hofmuseen, der Rathhausthurm geben die Anhaltspunkte, nach denen man sich zurechtfinden kann. Da liegt der gewaltige, durch die Regulierung in eine gerade Linie gezwungene Strom, wie mit eisernen Spangen von den Eisenbahnen umklammert, welche Wien mit der reichen Kornkammer des Kronlandes, dem Marchfelde, verbinden. Zu Füßen sanftes Hügelland, das sich allmählich erhebt bis zu den hochragenden Bergen des Wechsel- und Semmeringgebietes. Aus dem Grün der Reben- und Fruchtgärten schimmern hellblinkende Villen hervor, freundliche Dörfer schmiegen sich an das Hügelgelände. Es ist, als ob ein launenhafter Gott sein ganzes Schatzkästlein voll Anmuth und Fruchtbarkeit über diesen begnadeten Erdenfleck ausgestreut hätte. Das ist der Süden, der warme licht- und farbenprangende Süden! Er hat sich hier eingenistet, vom Reize der Oertlichkeit verführt, und behauptet seinen Besitz, obwohl er von Winterstürmen und Wassersnoth zuweilen gar übel zugerichtet wird.

Die schloßartige Anlage auf einer sanften Erhebung ist die hohe Warte. Heiligenstadt liegt in der Einsenkung. Dort brütete Beethoven, der Titan unter den Tondichtern, über seinen gewaltigen Werken; eine von Fernkorn gegossene Bronzebüste des Meisters erinnert daran. Rasch erweitert sich der Horizont. Von Station Krapfenwaldel hat man schon einen schonen Ausblick über Wien und das angrenzende Hügelland. Schloß Kobenzl, Bellevue und der beliebte Ausflugsort „der Himmel“ rücken näher heran. Der Zug tritt in den kühlen Schatten des Buchenwaldes, aber zeitweilig verstattet eine Lichtung einen kurzen Blick ins Freie: herrliche Bilder in üppig grünendem Rahmen! Das Sonnenlicht webt aus den Schatten der Bnchenblätter ewig wechselnde Muster auf den Moosgrund. Auf seinem weichen Teppich haben sich hier und dort lustige Gesellschaften niedergelassen. Sie verzehren unter Scherzen und Lachen, beim Klange der Harmonika und der neuesten Wiener Weisen ihr Mahl, bei dem die „Backhändln“, die „Würsteln“ und der „Gugelhupf“ eine große Rolle spielen. Der Grinzinger Wein, der an diesen Hängen wächst, wurde in Nußdorf eingekauft. Auf die reichliche Mahlzeit folgt eine wohlige Siesta; die Kinder aber laufen ab und zu, klettern auf die Bäume, fangen Käfer und Schmetterlinge und wähnen sich im Paradiese.

Man mag wochenlang unter dem grünen Dache des Wiener Waldes wandeln, immer kann man in diesem herrlichen Naturpark, der viele Quadratmeilen bedeckt, in seinen hundert Thälern, seinen idyllischen Ortschaften, seinem dämmerigen Waldesschatten dasselbe muntere Treiben, denselben Ausdruck des harmlosen Lebensgenusses beobachten.

Station Kahlenberg! Wenige Schritte noch, und wir sind in Josefsdorf, jenem romantischen Bergzierat, dem sich der Zug auf Schlangenwegen genähert. Im Hotel mit einer herrlichen Aussichtswarte findet man geputzte Menschen, die bei den Klängen einer Militärmusik ihren Kaffee schlürfen. Vom

ersten Stockwerk des geräumigen Hotels, dessen elektrische Lichter

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_144.jpg&oldid=- (Version vom 13.5.2020)