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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Das plötzliche Verstummen der Musik weckte Ewald aus dem Schlummer. Als er Bettinas Blicke auf sich gerichtet sah, sprang er auf und sagte lächelnd. „Bei Gott, da wäre ich beinahe eingenickt! Du singst wunderschön, Betty. Aber da fällt mir ein –“ hier blickte er auf die Uhr – „daß ich um acht Uhr mit dem Oberlotsen wegen des Wachtdienstes sprechen wollte, das darf ich nicht versäumen. Gute Nacht, Betty; falls ich ein wenig länger wegbleibe und Du müde wirst, so warte nicht auf mich, geh’ ruhig zu Bett!“

Er küßte sie, ließ sie allein in dem einsamen verschneiten Hause und wandte sich dem Gasthaus zu. Hier traf er einige Kameraden, die ihn zum Kartenspiel einluden, das für Ewald stets einen starken Reiz besessen hatte; denn das Spiel hielt wach und munter, man erfrischte sich dabei von Zeit zu Zeit durch einen Trunk Bier und rauchte behaglich seinen Tabak. Um Mitternacht erst verließ er die Gesellschaft mit dem angenehmen Gefühl, im ewigen Einerlei des Ehelebens eine recht hübsche Abwechslung genossen zu haben. So nahm er allmählich seine Junggesellengewohnheiten wieder auf, und Bettina sah, daß er ihr entschlüpfe. Ewald blieb offenbar ein Sohn der Wildniß, er war zu spät in die Schule der Parthenia gekommen.

Aber nicht genug damit, daß an seiner Gleichgültigkeit ihre edleren Bestrebungen scheiterten, allmählich mußte sie erfahren, daß Ewald und seine Mutter sie zu meistern anfingen. Als Ewald Abend für Abend im Wirthshaus Zerstreuung und Erheiterung suchte und von seiner Frau in zartester Weise darauf hingewiesen wurde, wie einsam sie sich während der langen Winterabende fühle, bemerkte er lachend. „Ja, mein Kind, wer einen Lotsen heirathet, muß auch wie eine Lotsenfrau leben. Schaff’ Dir ein Spinnrad an und geh’ am Abend zu den Nachbarfrauen, spinn’ und plaudere, dann vergeht die Zeit rasch und angenehm.“ Die Schwiegermutter aber fügte hinzu, daß Betty sich auch in anderen Dingen dem Landesbrauch anbequemen müsse. Sie trage noch immer nicht die enganschließende, dickwattierte Frauenhaube und die kurzen Röcke, wie es die Sitte erfordere. Eine ehrbare Lotsenfrau gehe in der üblichen Tracht und im selbstgesponnenen und selbstgewobenen Zeuge einher. Wer das Herkommen verachte, überhebe sich und werde zuletzt für eitel oder für etwas schlimmeres gehalten.

Bettina fühlte eine unbesiegbare Abneigung gegen die bäuerische Tracht, welche sie für ungesund und unkleidsam hielt. Sie entgegnete daher, daß ihr die enge dicke Haube Kopfschmerzen verursache und daß sie nicht einsehe, weshalb die Frauen ihren schönsten und natürlichsten Schmuck, das Haar, zerstören sollten. Die Schwiegermutter antwortete mit einer Grobheit; wer rothes Haar habe, meinte sie, der solle sich freuen, wenn er es verstecken könne.

Das Vorurtheil gegen die rothen Haare Bettinas wurde von allen Bewohnern Massows getheilt, man schloß von der Haarfarbe auf einen leichtfertigen und boshaften Charakter. Als Bettina sich endlich dazu bequemte, die Spinnstube der Lehrerin zu besuchen, begegneten ihr, die Hausfrau ausgenommen, alle Nachbarinnen mit Mißtrauen. Da Bettina nun außerdem bemerkte, daß ihre Gegenwart den Frauen Zwang auferlegte, und da sie weder am Spinnen noch am Stricken Gefallen fand und beides für höchst überflüssige Hantierungen hielt, so ließ sie es bei drei Abendbesuchen der Spinnstube bewenden und zog es vor, in der einsamen Klause zu musizieren und zu lesen.

Die Winterstürme, welche im Dezember schaurig ums Haus heulten, flößten ihr Furcht ein und weckten in ihr den Wunsch, ein lebendes Wesen um sich zu haben. Eines Tages sah sie im Hause eines lahmen Korbflechters, dem sie von Zeit zu Zeit eine Wohlthat erwies, junge Hunde und kaufte sich einen derselben. Es war ein weißer Pudel, den sie Pitt nannte. Das Thierchen machte ihr durch seine Munterkeit und treue Anhänglichkeit viel Freude, und wenn es sie abends knurrend und kläffend umspielte oder ruhig an ihrer Seite kauerte, so fühlte sie sich nicht mehr ganz verlassen, es war doch ein Lebenshauch in den einsamen Räumen. Ihre Freude sollte jedoch bald getrübt werden.

Die beiden Brüder Kathreins hielten zwei bissige Kettenhunde auf dem Hofe, welche auf Pitt Jagd machten, sobald sie seiner ansichtig wurden. Bettina wies daher dem kleinen Pudel den Garten zum Tummelplatz an. Eines Tages aber, als sie nach dem Schulhaus gehen wollte, schlüpfte Pitt aus der Thür und folgte ihr, ohne daß sie es merkte. Plötzlich vernahm sie ein klägliches Geheul und dumpfes Gebell. Erschrocken drehte sie sich um und sah, wie die großen Hunde des Nachbars unter den Augen ihrer Herren über Pitt hergefallen waren. Einen am Wege liegenden Feldstein aufraffend, stürzte sich Bettina auf die Gruppe, und es gelang ihr, mit einem Wurfe den größten der beiden Angreifer so zu treffen, daß er heulend entfloh. Darauf ließ der andre knurrend von Pitt ab, der kläglich wimmernd aufsprang und eine seiner Vorderpfoten beleckte. Bettina hob das Thierchen, dem ein Bein gebrochen war, auf den Arm, warf den höhnisch lachenden Burschen einen verächtlichen Blick zu und ging in die Klause zurück, wo sie dem verwundeten Thiere einen festen Verband um das gebrochene Bein legte und ein bequemes Lager zurecht machte. Als Ewald heimkam und das Attentat erfuhr, geriet er in heftigen Zorn gegen die Bräunings und drohte den beiden Burschen, er werde ihre Hunde niederschießen, wo sich dazu Gelegenheit finde. Als der verwundete Pitt aber in der Nacht durch einige Klagelaute seinen Schlaf störte, ängstigte er Bettina mit der Ankündigung: „Sobald es Tag geworden ist, fliegt das Biest ins Wasser.“

Nach dem Frühstück wollte er tatsächlich den unbequemen Gast aus dem Wege räumen, Bettina jedoch stellte sich mit zornsprühenden Augen vor ihren Schützling und rief: „Das wirst Du nicht thun, es wäre eine Rohheit, die ich Dir nie vergeben könnte. Einen Mann, der sich der gleichen Brutalität schuldig machte wie die Bräunings, müßte ich verachten.“

Ewald erschrak vor der Heftigkeit und wilden Energie Bettinas und ließ kopfschüttelnd von seinem Vorsatz ab. Er murmelte etwas von weiblicher Ueberspanntheit in den Bart, aber er hatte eine überlegene Kraft verspürt. Er merkte, daß der Ausübung seiner Gewalt eine Grenze gezogen sei, durch deren Ueberschreitung er seine Frau zu einer That der Verzweiflung bringen würde. In der Seele dieses Weibes lag offenbar eine Macht, die über allen Zwang emporschwebte. Von diesem Zwiste an spottete Ewald wohl über Bettinas Samariterthum, allein er duldete den vierfüßigen Patienten in seinem Hause.

Dieser erholte sich bald wieder, behielt jedoch als Erinnerung an den Vorfall ein steifes Bein. Fortan hinkte er hinter seiner Herrin her, die nun zu seinem Schutze einen Stock mit eiserner Zwinge trug, so oft sie die Klause verließ.

Schon durch dieses Vertheidigungsmittel rief sie die Spottlust der Dorfbewohner wach. Als sie sich aber gar durch eine spiegelglatte Eisdecke zum Eislauf verlocken ließ und sich an mondhellen Abenden der gesundeu Leibesübung mit Eifer hingab, da fand man ihre Aufführung unerhört, und Ewald mußte bald in der Schenke von seinen Kameraden spöttische Bemerkungen darüber hören. Er selber hatte Bettinas Uebungen mit Stolz beobachtet, welcher nur durch das Bedauern beeinträchtigt wurde, daß er selbst nicht Gewandtheit genug besaß, um das Schlittschuhlaufen noch zu erlernen. Er wies daher den Spott mit der barschen Bemerkung zurück: „Macht’s ihr doch nach, Ihr Tölpel!“ Besonders schmeichelte es seiner Eitelkeit, daß der Kommandant und dessen Gattin, die sich gleichfalls dem Vergnügen des Eislaufs hingaben, mit Bettinas Kuustfertigkeit sich auch nicht entfernt messen durften. Diese flog mit spielender Leichtigkeit über die weite Fläche, zeichnete mit den Eisenschuhen Spiralen in den Spiegel und jagte mit dem Wind um die Wette bis zum silbernen Eiskranz hitt, der die Wassergrenze bezeichnete.

Frau Monk urtheilte strenger als ihr Sohn und glaubte, der Aufführung ihrer Schwiegertochter ein Ziel setzen zu müssen; sie machte sich zum Sprachrohr all der Entrüstung, die in den Spinnstuben zusammengeflossen war. Als Bettina eines Abends spät vom Eise heimkehrte, fand sie die Schwiegereltern und Ewald vor dem Kaminfeuer. Ihr freundlicher Gruß wurde von Frau Monk mürrisch erwidert, und es dauerte nicht lange, so platzte die Alte mit der Bemerkung heraus: „Lewe Tina, dat Eislopen möt uphören, so wat schickt sich hier tau Lande nich for'ne respektable Fru.“

Bettina traute ihren Ohren nicht – wie, hatte sie sich darum aus dem Gewühl der Städte geflüchtet, damit man ihr hier einen harmlosen Naturgenuß verschließe? „Also die Gattin des Lotsenkommandanten ist keine respektable Frau?“ entgegnete sie gereizt.

Die Monks antworteten auf diesen Einwurf mit einer Fluth von unklaren Redensarten, aus denen Bettina zuletzt entnahm, daß einer Dame alles erlaubt sei, die Gattin eines Lotsen aber müsse das Ungewöhnliche meiden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_139.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2022)