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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Alle lachten, Francis blieb dabei, die Bahn werde morgen eröffnet, allein Vilma belehrte ihn mit soviel sittiger Würde, daß sie als junges Mädchen nicht mit einem jungen Herrn ohne Begleitung aufs Eis gehen möchte, und nickte ihm dabei so kurz verabschiedend zu, daß der verliebte Heißsporn nothgedrungen seinen Rückzug nehmen mußte. Thormanns helle Augen strahlten freundlich warm zu ihr hinüber. Das war endlich einmal wieder nach seinem Sinn, im übrigen behagte ihm die Atmosphäre dieses Salons sehr wenig und vor allem nicht die Herrin desselben, deren übertriebene Zuvorkommenheit ihn geradezu anwiderte.

„Sie ist Deine, sie ist Dein!“ klang inzwischen die tröstliche Schlußversicherung von drinnen her; ungemessenes Bravo aller derer folgte, welche den Gesang jämmerlich gefunden hatten. Man erhob sich allerseits, viele drängten ins Musikzimmer und bestanden heldenmüthig auf Fortsetzung der Qual. Aber es fehlte an weiteren Ausübenden: das eine Fräulein „genierte sich“, das andere hatte keine Noten da, Vilma selbst war nicht musikalisch. Plötzlich ertönte der Ruf: „Paula! Paula soll Violine spielen!“ Man stürzte sich auf das blasse Mädchen, das mit scharf zusammengezogenen Brauen in fast feindlicher Haltung dastand und auf alles Drängen nur mit kurzer Verneinung antwortete.

„Was für ein seltsam herbes Geschöpf,“ sagte leise Thormann zu dem Medizinalrath, „man sollte sie wahrhaftig nicht für die Schwester dieser reizenden Vilma halten.“

„Sie ist ein vollkommener Blaustrumpf,“ entgegnete dieser ebenso. „Will Medizin studieren, allein die Alte leidet’s nicht, ist so schon unglücklich genug über dieses Kuckucksei in ihrem Neste!“

„Aber Fräulein Paula, warum wollen Sie sich denn durchaus nicht hören lassen?“ bat jetzt einer der jungen Leute.

„Weil ich es nicht liebe, mich lächerlich zu machen,“ erwiderte sie schroff. „Das thut jeder, der seine ungenügende Fertigkeit zur Schau stellt. Lassen Sie mich, ich spiele sicher nicht!“

„Nun sehen Sie, so ist sie wieder,“ klagte voll Entrüstung die gleichfalls herbeigekommene Mama. „Statt es unseren lieben Gästen angenehm zu machen, gerade jetzt, wo alles so munter ist, diese unfreundliche Weigerung! Das ist wirklich häßlich von Dir, Paula!“

„Mama,“ flehte diese mit todbleichen Wangen, „ich bitte Dich!“ – und die Mutter, welche dieses Sprühen der Augen bei ihr kennen mochte, verzichtete verdrießlich auf weiteres. In demselben Augenblick flüsterte ihr Hedy ins Ohr: „Vilma kann ja tanzen!“ und Frau von Düring fuhr elektrisiert herum. „Ja, Du hast recht, mein Goldkind – Vilma, höre – meine Herrschaften, eine kleine Weile Geduld, dann sollen Sie eine Wiederholung des Schleiertanzes sehen, der neulich in der Pantomime auf dem Adlersbergschen Ball solches Aufsehen machte.“

„Aber Mama,“ rief Vilma in den allseitigen Beifall hinein, „wie kannst Du nur daran denken? Hier, allein ohne die anderen Mitwirkenden, ohne alle Stimmung dafür –“

„O, die Stimmung ist vorhanden,“ rief begeistert Francis und ihm nach ein halbes Dutzend junger Herren.

„Du tanzest Dein Solo!“ entschied die Mama. „Geh, drapiere Dich ein bißchen und komm schnell zurück! Frida kann dazu spielen, dort liegen ja noch die Noten!“

Thormann wartete auf eine entschiedene Ablehnung und fühlte sich unangenehm berührt, als Vilma mit einem der jungen Mädchen zu flüstern begann und dann, diese nachziehend, leichtfüßig aus dem Zimmer eilte.

Aber seine Stimmung hielt nicht an, als nach einer von der Jugend mit Gesellschaftsspiel ausgefüllten Viertelstunde draußen Tamburingerassel ertönte, Frida ans Klavier eilte und unter einem rauschenden Balletsatz Vilma ins Zimmer schwebte. Welch entzückendes Geschöpf! Feine schmiegsame Gewänder, goldgegürtet, zeigten ihren edlen Wuchs, goldene Ringe klirrten an ihren feinen Knöcheln und umspannten die bloßen Arme; ein duftiger Schleier, durchsichtig wie Spinnweb, umhüllte reizend Kopf und Gesicht und fiel bis zu den Füßen nieder. Die Hand mit dem Tamburin hing lässig zur Seite, nun erhob sie dieselbe und begann im Takt der Musik langsam hin und herzuschreiten. Aber bald wurden die Bewegungen schneller, sie warf das Tamburin zur Seite, zog den Schleier ganz allmählich vom Haupt und begann nun, sich neigend und beugend, ihn faltend und schwingend, ein so wundervolles Spiel, daß jedes Auge gebannt an dem Wechsel dieser Linien hing, und zuletzt, als sie nach leidenschaftlichster Bewegung plötzlich regungslos dastand, die herrlichen Arme mit dem Schleier hoch erhoben, das ganze vollendete Ebenmaß ihrer Gestalt zeigend, da brach ein Beifallssturm los, an dem auch der Künstler sich begeistert betheiligte. Mit der Hand an Stirn und Herzen grüßte die holde Tänzerin dankend und war dann entschwunden.

„Na,“ sagte der Landgerichtsrath, der es im Klatschen allen zuvor gethan hatte, indem er sich zu Thormann wandte, „das war einmal ein Anblick! Sind Sie nicht auch ganz bezaubert, Sie kühler Nordlandsrecke?“

Dieser fuhr wie aus einem Traum auf. „Bezaubert, ja, das ist der richtige Ausdruck. Aber ich glaube, es wird Zeit, den Zauberpalast zu verlassen, acht Uhr ist längst vorüber; ich habe meiner Kleinen versprochen, um diese Zeit zurück zu sein.“

„Wie? Sie wollen die Wiederkehr der schönen Vilma nicht abwarten, um Ihre Huldigung ihr zu Füßen zu legen? – Welch ein Bär!“ setzte er im stillen hinzu.

„Ich bin ganz ungeschickt, irgend wem Lobeserhebungen ins Gesicht zu sagen,“ versetzte der Maler ehrlich. „Uebernehmen Sie es für mich, Herr Rath, Sie besitzen darin viel mehr Uebung!“

Die Nothwendigkeit, sich bei der Frau des Hauses zu verabschieden, sah Thormann gleichwohl ein, allein diese war so umringt von begeisterten Gästen, daß er eine Zeit lang an dem Tische warten mußte, wo vorhin die Jugend ihre Schreibspiele gemacht hatte. Ein Berg von verkritzelten Blättern lag darauf, sein Blick streifte gleichgültig darüber weg, plötzlich aber sah er schärfer hin, ergriff eines der Papiere, betrachtete es genau und steckte es in seine Brusttasche. Dann verbeugte er sich vor Frau von Düring, beantwortete ihr eindringliches Angeln nach Lobeserhebungen mit einem gemurmelten: „O ja, gewiß, außerordentlich!“ und steuerte mit einem sonderbar gemischten Gefühle dem Ausgange zu. Halb zog es ihn zurück, und doch war er wieder froh, gegangen zu sein.

Zwei Stunden später, als alle Lampen gelöscht, Mutter und Schwestern im Bett waren, schritt Vilma noch in dem kaltgewordenen Salon hin und her. Er war entzückt gewesen, gewiß – das hatte sein Blick während ihres Tanzes deutlich genug ausgesprochen. Aber warum fand sie ihn nicht mehr, als sie zurückkam? Wie bei allen ausschließlich mit sich beschäftigten Leuten war Vilmas Menschenkenntniß sehr mangelhafter Natur, sie kam also endlich zu dem Schluß, daß eben eine starke innere Aufregung der Grund seiner schleunigen Entfernung gewesen sein müsse. Etwas ähnliches hatte ja auch aus den Worten des Landgerichtsraths geklungen, deren feurige Betonung sich auf der letzten, einem Ehemann gesteckten Grenze bewegte. Sie lächelte. So sollte jener sein, dann wäre seine Eroberung ein Kinderspiel! Indessen – es mußte auch so gelingen, sie hatte heute wieder ihre Macht gefühlt, sie würde triumphieren! –

Zur gleichen Stunde saß Thormann in seinem Arbeitszimmer, nachdem er die tausend Neugierfragen seines Töchterleins beantwortet und sie selbft endlich zu Bett geschickt hatte. Vor ihm lag der Zettel von heute abend und jenes Gedicht der Bazarpost. „Die Handschrift ist dieselbe,“ murmelte er vor sich hin, „hier flüchtig mit Bleistift, dort sorgfältig mit Tinte. Also doch aus diesem Kreis! Aber – von ihr kann es nicht kommen, denn sie zog sich ja eben während dieses Spieles an! – Pah!“ er griff nach der Zeitung, „es ist nicht der Mühe werth, darüber nachzudenken. Ich werde das Zeug in den Ofen werfen!“

Jedoch am andern Morgen lag das Zeug nicht im Ofen, sondern in einer Schreibtischlade zwischen Rechnungen, Briefschaften, Notizblättern und Banknoten, welche Herr Lars Thormann dort in anspruchslosem Durcheinander verwahrte, stets mit dem Vorsatze, „nächstens einmal“ aufzuräumen und gründlich Ordnung zu schaffen.




7.

„Der Sonntagnachmittag in der großen Stadt hat doch etwas seltsam Trübseliges,“ sagte Thormann zu sich selbst, als er in scharfer Januarluft seinen gewohnten Spaziergang durch die langen stillen Straßen lenkte. „Es ist die völlige Naturlosigkeit, die einen so widerlich anschaut, man wundert sich, daß der blaue Himmel in diese gemauerten Gänge hereinscheinen mag, wo er nichts zu sehen bekommt als heruntergelassene eiserne Rollläden

und verschlossene Hausthore. Selbst die Stille, die in der Natur

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_119.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2021)