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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

kommt zur rechten Zeit. Jetzt weiß ich, wo meine Heimath liegt. Ich will Deine Parthenia sein, Du Sohn der Wildniß!“

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An einem sonnigen Aprilmorgen verließ Bettina Berlin; in dem an ihrer Seite hängenden Täschchen trug sie ein Checkbuch und in ihrem Handkoffer den Plan zu einem Landhaus. Sie hatte nur drei Tage gebraucht, um ihre Angelegenheiten zu ordnen und sich zu einer Uebersiedlung nach Massow vorzubereiten. Der Sanitätsrath hatte ihr Vermögen ihr ausgeliefert. Sie übergab die Werthpapiere einem sichern Bankhaus und konnte fortan über 60000 Mark frei verfügen. Da sie die Absicht hegte, sich in Massow auf alle Fälle dauernd niederzulassen, so wandte sie sich an einen ihr befreundeten jungen Baumeister mit der Bitte, ihr den Aufriß zu einem Landhaus zu zeichnen, mit Küche, Vorrathskammer und Waschranm im Erdgeschoß, vier Zimmern im ersten Stock, einer Mansarde sammt Balkon und Trockenboden im Giebelraum. Der Architekt hatte seine Aufgabe in einigen Tagen so gut gelöst, daß der Entwurf von jedem gewandten Maurer- oder Zimmermeister ausgeführt werden konnte. Betreffs der Kosten hatte er bemerkt, daß er weder den Preis der Grundstücke noch des Baumaterials in Massow kenne, allein es sei anzunehmen, daß das ganze Landhaus bei einfacher Ausführung nicht mehr als 15000 Mark und nicht weniger als 12000 Mark kosten werde. Und das aufzuwenden, war Bettina fest entschlossen.

Sie wollte am Meer unter geraden treuen Menschen ein neues Leben führen. Sie hatte der Töchterschule eine Vertreterin gestellt; keiner ihrer Bekannten war in ihre Zukunftspläne eingeweiht. Ihre Stiefmutter und der Sanitätsrath glaubten, daß sie im Hause des Schullehrers oder des Lotsenkommandanten von Massow die schone Jahreszeit zubringen und im Herbst in die Stadt zurückkehren werde. Schon hatte sie ihren Platz im Zuge eingenommen und war eben dabei, ihr Handgepäck unterzubringen, da stieg hastig ein Passagier in den Wagen, dessen Anblick sie höchlich überraschte – es war der Geiger Franz Rott. Dieser stand bei der unverhofften Begegnung nicht minder erstaunt da und erst nach einer Weile brach er in die Worte aus: „Welch’ glücklicher Zufall!“

Bettina verwünschte innerlich das Zusammentreffen mit Rott. Kaum hatte dieser seinen Geigenkasten untergebracht„ so stellte er die schwer zu umgehende Frage. „Wohin reisen Sie?“

Sie nannte ihr Ziel, und der Musiker erwiderte lachend, daß er Massow auf seinen Künstlerfahrten noch nicht berührt habe; wo der Ort zu suchen sei.

Seine Reisegefährtin verstand sich zu näheren Angaben.

„Ah, dort liegt irgendwo in der Nähe die Besitzung meiner Freundin, der Gräfin Lindström. Die Dame ist Musikschwärmerin und hat mich wiederholt gebeten, meine Sommerferien auf ihrem Schloß zu verbringen, allein ich konnte mich nicht entschließen, die Rolle eines ‚Bratenbarden‘ zu spielen. Wissen Sie Neues von Ihrer Freundin Lisa Diaz?“

Bettina antwortete, daß sie persönlich seit Monaten keine Nachricht erhalten, wohl aber vom Vater Lisas erfahren habe, Diaz bewerbe sich in Madrid um eine Lehrerstelle am Konservatorium.

„Ihre Freundin hat ihr Lebensglück sehr unsicheren Händen anvertraut,“ bemerkte Rott, die Stirn runzelnd.

„Inwiefern?“

„Diaz ist ein liebenswürdiger Gesellschafter, ist voll Munterkeit, sobald er Anregung findet, empfänglich für alles Schöne und Gute und ein musikalisches Talent, allein diesen Vorzügen stehen nicht wenige Fehler gegenüber, die in seiner Nationalität wurzeln. Als echtes Kind des Südens ist er träge und nachlässig. Ich wohnte mit ihm in einer Zeit zusammen, da er sich um einen Preis bewarb. In den Stunden, wo er üben sollte, lag er auf dem Sofa und trieb Jongleurkünste oder andere Possen. Je heftiger ich in ihn drang, seine Zeit zu nützen, desto mehr scheute er vor der Arbeit zurück. Es schien mir – als ob der Gedanke an ein Müssen ihn unfähig mache, sich zu rühren. Wie alle Faulenzer aber wiegt sich Diaz in Glücksträumen, und wenn er – was freilich selten vorkommt – Ersparnisse macht, so legt er sie in der Lotterie an. Er ist in allen tieferen Fragen naiv wie ein Kind und abergläubisch – nun wie ein Spanier. Ich fürchte, Ihre Freundin hat jetzt schon die Entdeckung gemacht, daß man nicht ungestraft unter Palmen wandelt. Ein Mädchen, welches sein Vaterland oder seine Bildungssphäre verläßt, um dem Manne seiner Wahl zu folgen, muß viel über Bord werfen, ehe es auch nur die Zufriedenheit erreicht.“

„Sie fällen über Ihren Freund ein herbes und nicht eben kameradschaftliches Urtheil,“ versetzte Bettina unwillig.

„Diaz war niemals mein Freund, obgleich wir in Berlin häufig miteinander verkehrten. Beweis dafür ist der Umstand, daß er seit seiner Abreise keine Silbe an mich geschrieben hat, trotzdem er Verpflichtungen hatte, es zu thun. Ueberdies glaubte ich, daß unser gemeinsamer Antheil an dem Schicksal Lisas mir eine freimüthige Aussprache gestatten würde. Ich wünsche aufs innigste, daß meine Befürchtungen sich niemals erfüllen möchten.“

Es trat eine Pause ein, während der Zug sich in Bewegung setzte. Bettina war peinlich berührt, daß sie mit Rott in dem Wagen zweiter Klasse allein blieb. Seine Bemerkung über Lisas Wahl war ihr schwer aufs Herz gefallen, und der Satz: „Ein Mädchen, welches sein Vaterland oder seine Bildungssphäre verläßt, um dem Manne seiner Wahl zu folgen, muß viel über Bord werfen –“ grub sich ihrem Gedächtniß scharf ein. Sie hätte lieber von der Zukunft geträumt, statt eine Unterhaltung zu führen, die sich um Vergangenes drehte.

In der Hoffnung, daß der Reisegefährte vielleicht bald aussteigen werde, stellte sie nach einer Weile die Frage: „Wohin fahren Sie, Herr Rott?“

„Ich durchjage noch mit der Geige in der Hand Skandinavien,“ erwiderte dieser munter. „In Kopenhagen erwartet mich eine Sängerin, mit der ich mich zu einem sechswöchigen Musikattentat auf die Besitzer dänischen und schwedischen Goldes verbündet habe. Liegen diese Konzerte hinter mir, so ziehe ich mich mit dem Raub in die Felsenklüfte Tirols zurück, wo meine Sippe haust. Dort will ich zwei Monate rasten und in der Einsamkeit meine Nerven beruhigen.“

Bettina ergab sich in ihr Schicksal, seine Gesellschaft bis zur Hafenstadt ertragen zu müssen. Die Unterhaltung wurde fortgesetzt, und der Geiger plauderte in anregendster Weise über Musik, er gestand auch, daß er Bettina während des Winters wiederholt im Chor der Hochschule bei Schüleraufführungen gesehen habe. Von Station zu Station wuchs Bettinas Interesse an dem jungen Künstler, dessen rauhes Wesen und barsche Geradheit sie bisher abgestoßen hatten. Zu ihrer Ueberraschung erkannte sie jetzt, wie heiter und freundlich er lächeln, wie leicht und gefällig er unterhalten konnte. Er hatte viel erfahren in der Welt und legte ohne Zaudern seine Vergangenheit vor ihr bloß. Er war ein Bauernsohn; der Vater hatte ihn früh in die Klosterschule gesteckt, damit ein ‚geistlicher Herr‘ aus ihm werde. Der strengen Zucht entlief er aber als ein Vierzehnjähriger. Von der Mutter heimlich unterstützt, war er nach der Schweiz gewandert, um Naturwissenschaften zu studieren. Allein die Liebe zur Musik, die schon im Kloster geweckt worden war, hatte ihn langsam von der Wissenschaft abgedrängt. Vor sechs Jahren war er nach Berlin gekommen, um unter Joachims Leitung Geiger zu werden. Unter Hunger und Kummer, so schloß er seinen Bericht, habe er sich durchgerungen, nun sei er glücklich. Die Frühnebel, welche über dem Morgen seines Lebens lagen, seien zerstreut – er sehe die Sonne.

Bettina bemerkte ein seltsames Leuchten in den stahlgrauen Augen ihres Gefährten, ein Abglanz innerer Wärme verklärte seine Züge. Wie schön er sein kann, der Sohn des Tiroler Bauern, sagte sie sich im stillen; laut erwiderte sie: „So sind Sie also ein Priester der Kunst geworden und lehren die Völker, daß auch die Musik etwas Göttliches sei.“

„So weit bin ich noch nicht – mir fehlt die Weihe.“

„Die Weihe?“

„Ja, die Weihe der Liebe und des Schmerzes,“ entgegnete Rott. „Ein echter Künstler muß jene Höhen und Tiefen menschlichen Empfindens kennenlernen, welche die Liebe bringt. Ich bin ein nüchterner Alltagsmensch, der auf den Frühlingssturm wartet. Was ich jetzt als Geiger zu vergeben habe, ist schöner Ton, Technik, ein wenig Phantasie, aber das Beste fehlt – der Ausdruck tiefen Gefühls. Vielleicht stehe ich ihm nahe, dem holden Genius, welcher die höchste Lust in der einen, das tiefste Leid in der andern Hand trägt, vielleicht –“

Das Mädchen empfand mit einem Male unter Rotts Blicken

eine Beklommenheit, die ihr alle Unbefangenheit raubte. Bei der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_106.jpg&oldid=- (Version vom 13.4.2019)