Seite:Die Gartenlaube (1892) 105.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



Dichtung nicht und während der ersten Scenen sah sie den Vorgängen auf der Bühne mit gleichgültiger Miene zu. Die Vorstellung schien ihr unglücklich gewählt zu sein, und nur die Rücksicht auf ihren freundlichen Wirth hielt sie ab, das Theater zu verlassen, in dessen Luft sie sich beengt und bedrückt fühlte. Sobald jedoch Parthenia, die weiche poesieumflossene Tochter der Kultur, und Ingomar, der rauhe Sohn der Wildniß, sich gegenübertraten, ward ihre Theilnahme gefesselt. Die Handlung erhielt für sie mit einem Male sinnbildliche Bedeutung. Zwischen Parthenia, der Tochter Roms, und Ingomar, den eine Völkerwelle aus den Wäldern Galliens an die Grenzen der Civilisation geworfen hatte, bestand ein ähnliches Verhältniß wie zwischen ihr und Ewald Monk.

Der Lotse im einsamen Massow wurde ihr zum Sohn der Wildniß. Was diese Illusion so leicht erweckte, war vor allem auch der Umstand, daß der Darsteller des Ingomar denselben tiefen Klang der Stimme, die gleichen Bewegungen der breiten ausgespreizten Hand hatte wie Ewald und daß im letzten Akt, wo sich der Sohn der Wildniß dank Parthenias erziehender Liebe die Früchte der Kultur zu eigen macht, diese Aehnlichkeit eine ganz überraschende wurde.

Vor allem prägte sich ihr unauslöschlich jenes Liebesgespräch ein, in welchem die gefangene Parthenia mit ihrem stillen Reize den rauhen Ingomar zu ihren Füßen niederzwingt, wo dem reckenhaften Manne plötzlich die Frage sich aufdrängt: „Was ist denn Liebe, sag’?“ Wie Parthenias Antwort gleich einer Himmelsbotschaft in Bettinas Seele drang, dieses einfache schlichte Wort:

„Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag.“

Und der Sohn der Wildniß fragt weiter:

     „Und sag’, woher kommt Liebe?“
„Sie kommt und sie ist da.“
     „Und sag’, wie schwindet Liebe?“
„Die war’s nicht, der’s geschah.“

Das ist’s, klang es in Bettinas Innern, „die war’s nicht, der’s geschah.“ Konnte meine Liebe zu Guido schwinden, zum Abscheu werden, so war es keine Liebe, die mich einst mit ihm verband. Fort mit ihm! – Und über den Grafen, den Typus einer selbstsüchtigen Kultur, erhob sich riesengroß Ewald, der Naturmensch, dessen unverdorbenes Herz noch empfänglich war für die veredelnde Kraft der Liebe. Mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen folgte sie der Entwicklung der Handlung, und als diese mit einer rettenden heldenhaften That Ingomars abschloß, wurde ihr das Schauspiel zum Orakel. So würde Ewald in gleicher Lage handeln, sagte sie sich, so würde er emporwachsen zu edler sittlicher Kraft, wenn er eine Parthenia fände. Und es erschien ihr mit einem Male als eine erlösende würdige Lebensaufgabe, die gebundenen Kräfte in des Lotsen Seele frei zu machen, ihn zu erheben durch die Macht der Liebe.

Während sie das Theater verließ und nach Hause fuhr, wich der Bann des Geschauten keinen Augenblick von ihr, und verlockend tönten noch immer die Verse an ihr Ohr:

„Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag.“

Frau Rositas Zofe öffnete die Thüre der Wohnung, und während jene voranleuchtete, bemerkte Bettina, daß ein Brief für sie auf einem Tischchen im Flur lag; sie erwartete Nachricht von Lisa, welche inzwischen nach Madrid übergesiedelt war und seither nichts mehr von sich hatte hören lassen; hastig erbrach sie daher das Schreiben und las die in eckigen plumpen Schriftzügen hingestellte Frage: „Haben Sie denn Massow ganz vergessen?“ Unterzeichnet waren die Worte mit „Ewald Monk.“

Kaum war sie allein in ihrem Zimmer, so brach sie in Jubel aus. Sie küßte den Brief und sagte mit strahlendem Antlitz:

„Nein, ich habe Dich nicht vergessen, Ewald! Dein Mahnruf

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_105.jpg&oldid=- (Version vom 25.2.2019)