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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

war eine Erbschaft aus früheren Zeiten, daß zwar das stolze und kraftvolle Bürgerthum sich hinaufgearbeitet hatte, der Bauer aber – namentlich seit dem Aufkommen des römischen Rechts, das jeden zu Bodenzins verpflichteten Mann als hörig ansieht, und seit der gewaltigen Katastrophe des Bauernkriegs – immer tiefer hinabgedrückt ward. Friedrich Wilhelm war sich bewußt, daß er verpflichtet sei, des Volkes sich anzunehmen; er hat einmal seinen Söhnen den Satz als Wahlspruch diktiert: „Ich werde das Regiment so führen, daß ich stets eingedenk bleibe, es sei des Volkes und nicht meine persönliche Sache!“ Dem, der diesen Satz zuerst auswendig wisse, hat er sechs Dukaten versprochen. Wer vermöchte zu verkennen, daß in diesen Worten eine andere Art von Absolutismus sich ausspricht als in dem „l’état, c’est moi!“ Der Herrscher übt noch die selbstherrliche Gewalt aus; aber er fühlt sich als Beauftragten des Volkes, der Gesammtheit, welche hinter Ludwig XIV. sozusagen verschwunden war. Und was Friedrich Wilhelm fühlte, das hat sein Urenkel Friedrich II., der Große, klar ausgedrückt in seiner Vorrede zum „Antimacchiavell“, zu dem Werke, in dem er als Kronprinz sein politisches Glaubensbekenntniß ablegte: „Das Wohl der Völker, die er regiert, muß der Fürst jedem andern Interesse vorziehen. Der Souverän, weit entfernt, der unumschränkte Herr der Völker zu sein, die unter seinem Regiment stehen, ist nur ihr erster Diener“ – „le premier domestique“. Seine Hauptfürsorge wendete der König den kleinen Leuten zu. Als Schlesien ihm 1741 huldigte, da durften die Bürgerlichen stehen, während der Adel knieen mußte: Friedrich wollte „le roi des gueux“, der „König der Armen“ sein.

Man hat diese Art des Despotismus den „aufgeklärten“ Despotismus genannt; neben Friedrich dem Großen ist sein Hauptvertreter Joseph II.; ja dieser ist vielleicht der lehrreichste Typus der ganzen Richtung. Wenn irgend ein Fürst es mit seinen Unterthanen gut gemeint hat, so war er es: er hat von sich bezeugt, daß in ihm ein „wahrer Fanatismus für das Staatswohl“ wohne, dem er alles opfere. Mit Recht sagt deshalb die Inschrift auf seinem Denkmal zu Wien von ihm: „reipublicae vixit, non diu, sed totus“ – „er lebte dem Gemeinwesen, nicht lange, aber ganz.“ Allein indem Joseph II. die Menschen beglücken wollte, fragte er nichts danach, ob sie seine Maßregeln auch als Beglückung empfänden; den ihm entgegentretenden Widerstand glaubte er zerschmettern zu dürfen, ja zu müssen, um die Bahn zum Guten frei zu machen. „Alles,“ sagt Ludwig Häusser, „sollte ohne Vorarbeit, im Sturm erreicht werden; die Aufgaben, zu denen in Preußen über ein Jahrhundert und drei hervorragende Regenten nöthig gewesen waren, wollte er mit der Ungeduld des Enthusiasten lösen. In seinem Freisinn und seiner Humanität war ein gut Stück Despotismus und Absolutismus versteckt.“ Da sich nicht alles im Handumdrehen anders machen ließ, so entstand „ein Mittelzustand zwischen Altem und Neuem, der wegen seiner Unentschiedenheit auch die Besten verstimmte.“ Joseph II. hatte nach dem Bericht eines Engländers strenge und feste Grundsätze über Gerechtigkeit und Billigkeit, und kein Herrscher konnte ein größerer Feind der Unterdrückung sein. „Es ist jedoch eine gewisse Härte und Steifheit in ihm, welche erst die Reife und die Erfahrung des Alters mildern kann und welche ihn zu schnell und zu oft zu dem Schlusse verleitet: dies ist recht, also soll und muß es sein. Er bedenkt zu wenig, mit welcher außerordentlichen Vorsicht allgemeine Neuerungen eingeführt werden müssen, selbst wenn sie weise sind.“ Indem Joseph II. neben der Riesenaufgabe einer Modernisierung des österreichischen Staats auch noch die Last eines auswärtigen Krieges auf sich nahm, brach seine Kraft zusammen. Er bleibt der Befreier der Bauern vom Joch der Leibeigenschaft, der Begründer einer wenn auch noch eingeschränkten religiösen Duldung; aber er scheitert mit seinem Versuch, die römische Kirche in Oesterreich zu entwurzeln, alle Provinzen und Völker zu einem einheitlichen Ganzen zu verschmelzen, Slaven und Magyaren zu verdeutschen; er nennt sich kurz vor seinem frühen Tode – er starb im 50. Lebensjahr – den „Unglücklichsten aller Sterblichen“. Im Angesichte des Todes war er ruhig in seinem Gewissen; aber ihn kränkte, „daß er durch so viel Lebensplage so wenig Glückliche und so viel Undankbare gemacht habe.“

Joseph II. ist ein Beweis dafür, daß der beste Herrscherwille nicht genügt, wenn er nicht von praktischer Weisheit und Kenntniß der Menschen berathen wird. Die Niederländer, welche sich gegen ihn erhoben, haben ihm mit ähnlicher Begründung den Gehorsam aufgesagt wie ihre Vorfahren einst Philipp II.: „Er hat den uns geleisteten Schwur gebrochen; also sind wir auch unseres Eides quitt.“ Und doch – welch ein Unterschied zwischen dem menschenfreundlichen Joseph II. und dem strengen Despoten Philipp II., welcher nicht einmal dem hohen Adel des Deutschen Reichs einen huldvollen Blick oder eine Verbeugung gönnte! So ist Joseph II. die schlechthin tragische Gestalt unter den aufgeklärten Despoten, die alles für das Volk thun wollten, aber nichts durch das Volk. Die Zeit dieses Regiments war aber schon vor hundert Jahren um, und mit Recht hat Karl Grün im Dezember 1880 in der Allg. Zeitung an das Wort Macchiavellis erinnert: „Der Fürst wird glücklich sein, dessen Streben und Handeln mit dem Charakter seiner Zeit übereinstimmt; denjenigen aber wird das Unglück verfolgen, dessen Streben und Handeln mit dem Zeitgeist in Widerspruch ist.“ Joseph II. war in einem solchen Widerspruch, manchmal weniger nach Seite seiner Absichten, als nach der seiner Mittel; aber seine Mittel wurden seinen Absichten verderblich. Verus.     


Blätter und Blüthen.

Friedrich Harkort. Es ist ein prächtiges Charakterbild, das des „alten Harkort“, des wetterharten Westfalen, des unermüdlichen Kämpfers für wirthschaftlichen und sittlichen Fortschritt, das uns aus der Geschichte seines Lebens und seiner Zeit von L. Berger entgegenleuchtet. Den älteren Lesern der „Gartenlaube“ ist der „alte Fritz“ kein Fremder. Im Jahrgange 1870 und wiederholt ist über ihn berichtet worden. Die jetzt von seinem Schwiegersohne herausgegebene ausgezeichnete Biographie ermöglicht es, die Laufbahn des trefflichen Mannes ins einzelne zu verfolgen; aber nicht bloß das: der Verfasser hat es auch verstanden, für die einzelnen Abschnitte dieses Lebensganges den allgemeinen politischen und kulturgeschichtlichen Hintergrund in wirkungsvoller Deutlichkeit zu entwerfen und uns so die Bedeutung des Geschilderten erst recht verstehen zu lehren. Nicht versäumen möchten wir, darauf hinzuweisen, daß der Reinertrag aus dem bei Julius Bädeker in Leipzig erschienenen Buche – ganz im Sinne des thatkräftigen Streiters für Schule und Lehrerstand – zur Unterstützung nothleidender Lehrerwitwen bestimmt ist.

Ein „Bahnbrecher der Industrie“ wurde Friedrich Harkort zunächst durch seine Maschinenwerkstätte in Wetter. Als sein Vater starb – am 10. Mai 1818 – da blieb nach westfälischem Erbrechte dem ältesten der hinterlassenen sechs Söhne der Stammsitz Harkorten als Majorat, die übrigen fünf sahen sich auf ihre eigene Kraft gestellt. Friedrich betrieb erst kurze Zeit eine Gerberei und übernahm daneben ein Kupferhammerwerk, bald aber überließ er diese Unternehmungen jüngeren Verwandten, die ihn bei der Einrichtung und Führung unterstützt hatten, um sich selbst einem neuen Industriezweige zu widmen, welcher für die gewerbliche Entwicklung Westfalens von höchster Bedeutung zu werden bestimmt war. Er trat in Verbindung mit Heinrich Kamp, einer genial veranlagten Persönlichkeit, welcher für ihre Unternehmungslust ansehnliche Mittel zu Gebot standen. Durch das eifrige Studium englischer technischer Zeitschriften auf die riesige Entwicklung des Maschinenwesens in Großbritannien aufmerksam gemacht, in der Erkenntniß, daß Deutschland sich die gleichen Vortheile zu eigen machen müsse, wenn seine Industrie nicht binnen kurzer Zeit von England vollständig überflügelt werden solle, vereinigten sich beide zur gemeinsamen Anlage einer Maschinenfabrik oder sogenannten „mechanischen Werkstätte“.

Kamp sollte die erforderlichen Geldmittel beschaffen, Harkort die Leitung übernehmen. Bei der Suche nach dem geeigneten Ort für das neue Unternehmen kam man, da das Augenmerk vorzugsweise auf die Herstellung von Dampfmaschinen gerichtet war, nothwendig auf den Industriebezirk an der Ruhr, dessen bedeutender Bergbau nicht nur die gute Aussicht auf Absatz solcher Motoren, sondern auch den Vorzug billigen Bezugs von Eisen und Kohlen darbot. Die Wahl fiel schließlich auf die alte Burg in Wetter, die, vom Fiskus zum Verkaufe gestellt, im Jahre 1818 von den beiden Theilhabern der neuen Firma Harkort und Comp. erworben wurde. In demselben Jahre noch führte Harkort seine Braut heim, mit der er sich einst, 1813, am Vorabend der Befreiungskriege verlobt hatte, dann segelte er im folgenden Jahre, über die unzähligen Bedenken zaghafter Verwandten und Freunde sich hinwegsetzend, nach England, um von dort Sachverständige und Arbeiter herüberzuholen.

Das war freilich keine leichte Sache. Tüchtige Leute waren nur durch hohe Gehälter zu bewegen, die Heimath zu verlassen, die Zahl der anständigen Männer, die Harkort folgten, war darum nur klein, und er mußte, aus der Noth eine Tugend machend, auch solche annehmen, denen der Aufenthalt in ihrem Vaterlande aus irgend welchen Gründen schwül geworden war, wenn sie nur Kenntniß der Maschinenarbeit besaßen. „Ich habe damals verschiedene meiner Engländer,“ pflegte er in späteren Jahren zu äußern, „sozusagen vom Galgen herunterschneiden müssen, nur um überhaupt welche zu bekommen.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_098.jpg&oldid=- (Version vom 4.4.2024)