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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

aufgefallen war. Sigrid drängte nach ihrer gewöhnlichen Weise, hinüberzugehen und ebenfalls Rosen zu holen; er war diese quälende Kinderstimme schon gewohnt wie einen körperlichen Zustand, dessen man nicht achtet, endlich aber kam ihm der Sinn ihrer Worte zum Bewußtsein und er lenkte auf den Christbaum zu. Diese unmittelbare Nähe der überirdischen Mächte flößte der kecken Kleinen doch einige Befangenheit ein, sie klammerte sich mit der einen Hand an den Papa und streckte die andere mit einem schüchternen „Bitte!“ nach den Rosen aus. Und siehe da, ehe noch Knecht Ruprecht zur Stelle war, griff der Engel über sich in den Baum, löste zwei der schönsten Rosen mit langen Rauschgoldfäden los und legte sie, holdselig lächelnd, in Sigrids Hand, ohne einen Blick seitwärts nach ihrem Begleiter zu richten.

„Papa!“ jubelte das Kind, während der Menschenstrom die beiden weiterführte, „der Engel hat sie mir selbst gegeben, sieh nur, wie wundervoll!“

Thormann nahm den Zweig in die Hand. „Wunderschön Liebling! Es ist uberhaupt sehr hübsch hier, wir wollen uns unter die Palmen setzen und den Anblick noch ein bißchen genießen!“

„Aber Eis dazu essen, Papa!“

„Auch das.“ Und während nun die Kleine essend und schwatzend ihrem Herzen Genüge that, blieben seine Augen gedankenvoll auf den flimmernden Christbaum gerichtet. Die Gestalten darunter verdeckte ihm die Menschenwand.

Endlich gedachte er des Briefes, den ihm die schöne Postmeisterin lachend mit der Forderung eines erklecklichen Portos entgegengeschwungen hatte, und holte ihn hervor. Dort im Gedränge hatte er ihn nicht öffnen können, es verlohnte auch schwerlich der Mühe, denn er hatte wohl bemerkt, daß die Briefe rasch je nach den Empfängern adressiert wurden. Irgend ein schlechter Witz ins allgemeine würde darin stehen. Er erbrach den Umschlag. Verse?! ...

Mit wachsendem Staunen las er:

„Es kommen Blätter, es kommen Blüthen –
Doch keinen Frühling erlebt mein Herz,
Ich sitze trauernd, ein Grab zu hüten,
Und um Cypressen schweift mein Schmerz. –

Die sanften Lüfte, fühl’, wie sie kosen!
Die hohen Sterne, sieh, wie sie glühn!
Der neue Sommer bringt neue Rosen
Und nur für einen soll keine blühn?“

Von wem konnte das kommen, wer sollte ihn hier erwartet haben? Er zerbrach sich vergebens den Kopf – am Ende war es doch nur ein Zufall, sie hatten wohl viele Verse in Bereitschaft da drinnen! und doch, und doch das traf so merkwürdig mit den Gedanken zusammen, die ihm auch hin und wieder kamen! Er fand kein Ende mit Ueberlegen und sah sinnend vor sich hin. – –

Eine Stunde später kehrte das Ehepaar Walter mit dem glücklich wiedergefundenen Francis heim.

„Nun, wie war es?“ fragte Emmy den jungen Mann, als sie zu Hause waren.

„O, entzückend!“ rief er begeistert. „Ich nie hätte geglaubt, daß könnte sein so schön in Deutschland.“

„Nun, warten Sie nur, es kommt noch besser! Aber jetzt zum Abendessen, das lange Herumstehen macht einen doch gehörig hungrig!“

Aus seinem Zimmer kam im gleichen Augenblick Hugo, eine namhaft verstaubte Bibel in der Hand, mit sehr enttäuschter Miene:

„Ich dachte wunder, was sie da auf mich gemünzt hätten. Das ist nun wirklich der Mühe werth!“

Und Emmy las die in dem Brief genannte Stelle:

„Wohl dem, der ein tugendsam Weib hat, des lebet er noch eins so lange. Ein häuslich Weib ist ihrem Manne eine Freude, und macht ihm ein fein ruhig Leben.“

„Nun,“ sagte sie mit großen Augen, „Du wirst doch den alten Sirach nicht Lügen strafen wollen?“

„Natürlich nicht,“ erwiderte er, sie umfassend, „aber sie hätten wohl auch einen Spruch für mich persönlich finden können.“

Sie lachte. „Etwa: des Menschen Leben währt siebzig Jahre, aber mit vierzig ist er den klugen Damen nicht mehr interessant? Ja ja, solche Erfahrungen sind schmerzlich für schöne Leute. Doch weißt Du was? Tröste Dich mit dem vorzüglichen Rehragout, das wir heute abend haben. Gebackene Kartoffelklöße dazu, wie Du sie liebst, ist das nicht ausgezeichnet?“

„Komm!“ sagte er und blickte voll Vergnügen in ihr hübsches lachendes Gesicht. „Der alte Sirach hat recht; dort war es schön in aller Feeerei, allein am schönsten ist’s doch zu Hause!“




5.

Geduldige Schafe waren es nicht, die am nächsten Sonntag Stück für Stück bei Walters eintrafen, und ein Stall war es auch nicht, in dem sie sich drängten, aber doch gingen unglaublich viele hinein und fanden Mittel und Wege, denjenigen Lärm in Scene zu setzen, welcher von einer Kindergesellschaft mit Einstimmigkeit das Prädikat „furchtbar lustig“ erhält. Fritz athmete erleichtert auf, als es einmal soweit war; seinem Geiste hatten düstere Ahnungen vorgeschwebt wegen des „geradezu schofelen Menüs“, das abzuwenden er keine Möglichkeit sah. Die Mama hatte seinem flehentlichen Andrängen eine eiserne Kaltblütigkeit entgegengesetzt: „Kaffee mit Kuchen“ lautete ihr unabänderlicher Spruch.

„Und nachher?“

„Apfeltorte.“

„Und was zu trinken?“

„Wasser, vielleicht etwas Limonade!“

Auf das hin hatte Fritz einen Entrüstungsanfall bekommen, der jede weichherzigere Mutter zum Zugeständniß der gewünschten Bowle veranlaßt hätte, denn nach seiner verzweifelten Versicherung war ohne eine solche eine anständige Jugendgesellschaft überhaupt nicht mehr denkbar. Bei Hoffmanns hatte es außerdem noch Gefrorenes gegeben und hinterher belegte Brötchen und Bier!

Das herzliche Lachen seiner Mama auf diese, wie er glaubte, niederschmetternde Enthüllung brachte den jungen Lebemann vollends außer sich. Sie erklärte ihm sehr gemüthsruhig:

„Für kleine Jungen und Mädchen ist zwischen Mittag- und Abendessen Kaffee und Kuchen hinlänglich genug. An mehr könnten sie sich nur den Magen verderben. Und nun lauf, richte die Laterna magica her und besinnt Euch auf hübsche Charaden! Das Vergnügen muß wo anders liegen als im Essen und Trinken, das könnt Ihr nicht früh genug lernen!“

Schwer gekränkt war Fritz abgezogen. Warum hatte ihn das Schicksal nicht bei Hoffmann’s auf die Welt kommen lassen, wo die Söhne ihre Wünsche nur zu nennen brauchten, um sie sofort erfüllt zu sehen! Der harrenden Elsbeth berichtete er nur: „Es giebt eine gräßliche Blamage!“ und weidete sich an ihrem entsetzten Gesicht. Dann ging er aber doch und setzte die Laterna magica in Stand.

Und nun war es so nett geworden! Im Tanzen und Spielen, im Aufführen der Charaden und im Stellen der lebenden Bilder – all das verstand die Mama ausgezeichnet ins Werk zu setzen – waren selbst die blasierten Hoffmanns-Buben warm geworden, vor deren Kritik Fritz heimlich zitterte, und Oskar, der älteste, erklärte bei Gelegenheit eines sehr gelungenen Räuberüberfalls, wobei man Vilmas jüngere Schwester Hedy in offenen Haaren als gefangene Prinzessin weggeschleppt hatte: „So lustig ist’s nie bei uns!“ Er hielt sich fortan dicht zu dem niedlichen Backfischchen, das eine für sein Alter erstaunliche Erfahrenheit in solchen Aufführungen an den Tag legte. Aber Elsbeths ehrliches Innere entsetzte sich, als Hedy im Eifer der Vorbereitung im Schlafzimmer ihr zurief: „Ihr habt ja nicht einmal Puder hier und kein Brenneisen! Dir ist es wohl ganz einerlei, was die Jungens von Deinem Aussehen sagen?“

Jetzt saß das kleine Fräulein während der Tortenpause mit sorgsam ausgebreitetem Röckchen auf dem Sofa und versuchte verschiedene Augenaufschläge an dem jungen Weston, der gekommen war, sich das Fest anzusehen, und sogleich ihr frühreifes Persönchen unter den guten Schulkindern herausgefunden hatte. Daß er sie ganz als Erwachsene behandelte, gab ihr einen

hohen Begriff von der Bildung der Amerikaner, sie vergalt es

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_086.jpg&oldid=- (Version vom 27.12.2019)