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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

man jeden echten Schauspieler mit Recht den „beeideten Dolmetsch des Dichters“ genannt hat, dann darf Martinelli in Wahrheit diesen Ehrennamen als Anzengruber-Darsteller in Anspruch nehmen. Jeder Feinheit des Textes, den verborgensten Charakterzügen der Helden dieses Poeten ist er gerecht geworden; schöpferisch hat er die Charaktere Anzengrubers nachgelebt und für die Beichte des gleisnerischen Bauern-Tartuffe ebenso überzeugende Töne gefunden wie für die verwegene Gaunersophistik des Gewohnheitsdiebes Hubmayr; seine Verkündigung der „extraigen Offenbarung“ des Steinklopferhanns ist so getreu wiedergegeben wie die Meistergestalt des alten Brenninger in den „Kreuzelschreibern“.

Je bedeutender Martinelli sich aber als Anzengruber-Darsteller hervorthat, desto weniger Lust hatten die Wiener Operettengewaltigen der siebziger und achtziger Jahre, den trefflichen Volksschauspieler, so siegreich er sich auch beim Publikum eingeführt hatte, in ihren Theatern zu beschäftigen. Von 1876 ab wirkte Martinelli über ein Jahrzehnt in Prag, sehr verdienstlich auch im klassischen Schauspiel; die letzten Zeiten vor Eröffnung des Deutschen Volkstheaters zu Wien mußte er, da er mit der Neugestaltung der Dinge im Theaterwesen an der Moldau unzufrieden war, mit Gastspielen sich durchschlagen. Das Unrecht, das Martinelli solcherart widerfuhr, ist durch die überragende Stellung, welche er gegenwärtig im Wiener Theaterleben als ausübender und leitender Künstler einnimmt, theilweise gesühnt. Er ist heute unbestritten der erste Charakter-Darsteller unter den Wiener Volksschauspielern. Dem Kenner hat die zeitweilige, unbillige Verdunkelung von Martinellis äußeren Geschicken den Blick für seine Originalität eher geschärft als umschleiert. „Das auch für den lässigsten Theaterbesucher Auffälligste an diesem Künstler ist,“ nach Anzengrubers Wort, „dessen Vielseitigkeit. Und mit seiner Vielseitigkeit hält sein Talent und seine Kraft immer so weit Schritt, daß selbst noch seine schwächsten Leistungen jene der sogenannten ‚verwendbaren‘ Schauspieler, die nie etwas verderben, hoch überragen. Diese überlegene Vielseitigkeit zeigt, daß wir es mit einem denkenden Schauspieler zu thun haben; das allein würde schon einen Erfolg in bescheidener Sphäre erklären, aber einen großen, nachhaltigen Erfolg erklärt es nicht; dieser liegt in der eigenartigen Begabung Martinellis. Er hat ein sogenanntes schneidiges Talent, er faßt stramm und ehrlich zu; auch wo er fehlgreift, ist der Griff ein ehrlicher, und was er erfaßt, damit befaßt er sich auch, er weiß, daß das Durchdringen, das Bewältigen der Aufgabe der Gestaltung derselben voraufgehen muß. Er vergißt es nie und nimmer, daß der Schauspieler Künstler zu sein hat. Er kann den Weg, den er von seinem Ausgangspunkt bis auf den heutigen Tag zurücklegte, mit Genugthuung überblicken, er verfolgt mit ernstem Wollen und redlichem Streben die offene gerade Straße, die zur verdienten Anerkennung führt; möge es ihm noch lange vergönnt sein, auf derselben rüstig auszuschreiten!“

Seitdem Anzengruber diese Worte und Wünsche niedergeschrieben, hat Martinelli den nie verwundenen Schmerz erlitten, daß ihm sein Lebensfreund und Lieblingsdichter vorzeitig durch den Tod entrückt wurde. Mit womöglich noch erhöhtem Eifer setzte er nun aber neuerdings seine ganze reiche Kraft daran, das Vermächtniß des großen Volksdramatikers der Gesammtheit unverkürzt zu überantworten. Als Schauspieler und Regisseur gab er rastlos sein Bestes für Anzengruber. Seine Inscenierung des „Vierten Gebot“ hat das Ihrige beigetragen zu den Ehren, welche – allerdings erst nach dem Tode des Dichters – diesem mächtigsten Wiener Volksstück im Deutschen Volkstheater bereitet wurden. Martinellis Bühnenbilder in Anzengrubers Bauern- und Wiener Komödien werden von jedem folgenden Dramaturgen so sorgsam festgehalten werden müssen, wie seine schauspielerischen Leistungen jedem kommenden Anzengruber-Darsteller als Muster voranleuchten sollten. Und so lange man nach dem Wiener Volksschauspiel unseres Jahrhunderts, so lange man nach Anzengruber fragen wird, wird man darum auch Ludwig Martinellis in Ehren gedenken.

Anton Bettelheim.

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Deutsche Städtebilder.

Wismar.
Von Dr. Karl Lüttgens.

Eine „fürstliche Witwe“ hatte ich die Stadt Wismar nennen hören, welche, einst eine der vornehmsten der Hansa, noch manche Reste des Glanzes und Reichthums in ihr wohlbestelltes Altentheil hinübergerettet hat. Stolz und fürstlich erschien Wismar auch mir, als ich es, aus dem Binnenlande kommend, von einer Höhe herab zum ersten Mal erblickte. Ueber der weiten Mulde, in welche die alte Seestadt traulich eingebettet ist, über der Meeresbucht, zu der sie sich hinabzieht, lag noch der dichte Nebel eines Herbstmorgens ausgebreitet. Aus seinen wolkigen Massen starrten anfangs nur zwei ungeheure stumpfe Säulen in den Himmel hinein, die viereckigen gewaltigen Thürme der Nikolai- und der Marienkirche. Allmählich aber zertheilte sich der Dunst; die beiden rothen Kirchenkolosse tauchten in ihrem ganzen wuchtigen Umfang empor; zwischen ihnen dehnten sich, eng aneinander geschmiegt, die Dächer der Stadt.

Die Nikolai- und die Marienkirche, zusammen mit der thurmlosen, aber in riesigen Verhältnissen erbauten Georgenkirche, verleihen dem Bilde Wismars das Gepräge des Monumentalen. Sie sind die Wahrzeichen einer bedeutenden reichen Vergangenheit, sie geben noch der Gegenwart einen Schimmer von Größe. Bei hellem Sonnenlicht leuchten die großen Ziegelbauten mit ihrem kräftigen Roth weit ins Land hinein, ein dichter grüner Kranz von Gärten und Alleen umzieht sie, und vor ihnen dehnt sich die Bucht in feuchtschimmerndem Blau. Der figurenreiche Schmuck gebrannter Ziegel glitzert dem Ankömmling von den Portalen und Giebeln der Gotteshäuser entgegen, durch die schmalen, schlank emporschießenden Fenster der hohen Mittelschiffe schimmert das Tageslicht in klarem Hellgrün aus der rothen Mauerumgebung.

Doch nicht nur die Kirchen mit ihrem eigenartigen Formenreichthum sind geeignet, das Auge des Fremden zu fesseln: ganz Wismar ist ein großes Museum. Vor allem enthält das Marienviertel ein seltenes Beieinander alter anziehender Bauwerke.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_082.jpg&oldid=- (Version vom 4.4.2024)