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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

die Einwohner des Dorfes in große Erregung. Fischer- und Lotsenboote umschwärmten am Abend die eisengepanzerten Kolosse. Nur der Sanitätsrath bekümmerte sich nicht mehr um die Flotte, als daß er die mürrische Bemerkung hören ließ. „Hoffentlich treibt der Kommandant keinen Mißbrauch mit den Kanonen. Jeder Schießversuch käme einem Angriff auf meine Nerven gleich.“

Lisa und Bettina stiegen gegen Abend zum Höwt hinauf, um einen Blick auf das Geschwader zu werfen. Es hatte während des Tages etwas gestürmt, jetzt war die Luft ruhiger geworden, aber die Brandung rauschte und zerflatterndes Gewölk ging über den Himmel hin. So oft die Sonne hinter den Wolkengebilden hervorbrach, leuchteten die schäumenden Wogen und waldigen Küsten unter ihren Strahlen auf. „Welch’ herrlicher Anblick!“ rief Bettina auf der Höhe aus. „Hier erst finde ich mich selbst, finde eine neue Welt, die immer die wahre ist!“

„Hoia ho! Gu’n Tag ooch, Pischel!“

„Gu’n Tag, Ewald. All’ wedder taurück?“

Die Begrüßung, welche so jäh in die überschwengliche Stimmung Bettinas fiel, wurde zwischen zwei Lotsen ausgetauscht, von denen der ältere, Pischel, den Mädchen bekannt, der jüngere dagegen fremd war. Dieser unterschied sich wesentlich von seinen Kameraden durch die leichte aufrechte Haltung, den freien Gang und die äußere Erscheinung, durch den Vollbart und sein kurzgestutztes dunkles Haar. Auch war er nicht mit den landesüblichen weiten Hoseb und der kurzen Jacke, sondern nach Art der englischen Matrosen bekleidet. Er mochte etwa fünfunddreißig Jahre zählen, doch war sein dichtes Haar schon von weißen Fäden durchzogen. Er ließ sich neben dem Oberlotsen auf der Bank nieder, und die Mädchen hörten aus der Unterhaltung der beiden Männer, daß der Jüngere mit dem Kriegsgeschwader eine längere Fahrt gemacht und nun zum „Utkiek“ heraufgekommen sei, um mit Pischel eine gemeinsame Feldarbeit zu verabreden. Lisa, welche gern Aufschluß über die Beschaffenheit der einzelnen Kriegsschiffe erhalten hätte, wandte sich, als das Gespräch der beiden stockte, an Pischel.

Doch der verwies sie an den Fremden mit der Bemerkung: „Hier mein Freund Ewald Monk kann Ihre Fragen besser beantworten als ich, denn er ist jahrelang auf einem Kriegsschiff gefahren und eben wieder mit dem Geschwader draußen gewesen.“

Und Monk grüßte die Mädchen mit einer artigen weltmännischen Verbeugung, nannte ihnen die Namen der Kriegsschiffe, belehrte sie uber deren Ausrüstung und innere Einrichtung und machte sie darauf aufmerksam, daß am nächsten Morgen vom Höwt aus ein vollkommenes Kriegsschauspiel zu beobachten sein werde. Die Uebung beginne schon in aller Frühe.

Die Freundinnen dankten ihm für die Auskunft, und Bettina fühlte sich von der einfachen und natürlichen Sprache des Lotsen, von seiner ruhigen männlichen Haltung sehr angenehm berührt. Sie betrachtete ihn aufmerksamer und hatte die wohlthuende Empfindung, einem grundehrlichen Menschen gegenüber zu stehen. Monk war der jüngste Lotse am Orte und der hübscheste. Seine mittelgroße Gestalt war gedrungen und breit, aber nicht plnmp; sein von Sonne und Wetter gebräuntes Gesicht hatte etwas Starres, unbewegliches, allein aus seiner breiten Stirn und seinen scharfblickenden grauen Augen schloß Bettina auf Willenskraft und natürlichen Verstand. Sie erinnerte sich, daß die meisten der Seltenheiten im Lotsenhaus von ihm herrührten, und während sie sich mit Lisa auf der Bank niederließ, brachte sie das Gespräch auf seine weiten Fahrten.

Der Seemann schob den Strohhut in den Nacken, fuhr sich mit der braunen Hand über die Stirn, als wolle er seine Gedanken sammeln, und sagte dann mit einem Anflug von Verlegenheit: „Ja, wer wie ich seit seinem vierzehnten Jahre draußen gewesen ist und alle Meere befahren hat, der kann mancherlei erzählen. Es liegt ein abenteuerliches Leben hinter mir. Ich war mit den Walfischfängern droben auf Island und befand mich in einem Boot, das ein Wal zertrümmerte, als wir ihm die Harpune in den Rücken gepflanzt hatten; fünf Kameraden gingen zu Grunde, ich aber wurde aus dem blutigen Gischt wieder herausgezogen. Ich bin als Schiffbrüchiger tagelang ohne Trunk, ohne Nahrung auf einem Mast im Meere herumgetrieben und war dem Wahnsinn nahe, als endlich ein vorübersegelndes Schiff mich bemerkte und anfnahm. Das Meer mit seinem Reiz und seinen wilden Schrecken – es ist mir vertraut geworden.“

Bettina betrachtete den Mann mit steigender Verwunderung, er hatte das alles so schlicht gesagt, als rede er vom Gewöhnlichsten, und doch, welch’ tiefe Eindrücke mußte ein solches Leben hinterlassen haben! Der Held so vieler Abenteuer zog sie mächtig an, sie hätte gern tiefere Blicke in sein Inneres gethan und betrachtete forschend seine Züge, allein dort stand nur eherne Entschlossenheit zu lesen.

Als die Mädchen endlich aufbrachen, begleitete sie der Lotse bis zum Schulhaus und verabschiedete sich dort mit der Bemerkung: „Wenn die Herrschaften Lust haben sollten, nach der Uebung eines der Schiffe zu besichtigen, so bin ich gern bereit, Sie mit dem Segelboot hinzufahren.“

Die Mädchen blickten ihm nach, wie er durch die Weizenbreiten zum östlichen Strande schritt. Ein purpurner Duft lag über den Hügeln der Küste, und die Wasserfläche vor Groß-Küstrow schillerte in allen Farben. Es schien Bettina, als webe das rothe Abendlicht einen Glorienschein um den einfachen Seemann, der so manchen wilden Kampf mit den Elementen bestanden, der den ganzen Erdball umkreist hatte. An diesem Abend nahm eine tränmerische poetische Stimmung sie ganz in ihren Bann. Sie glaubte die zirpenden Heimchen zu verstehen, deren Konzert von den Wiesen herauftönte: „Bleib’ bei uns“, riefen sie, „hier ist Deine Heimath!“ – –

Am nächsten Morgen waren Land und Meer voll Sonnenglanz. Eine Kanonade, die an fernen Donner gemahnte, hatte die Mädchen aus dem Schlaf geweckt. Ohne an die häuslichen Pflichten zu denken, kleideten sie sich hastig an und eilten zum Vorgebirge, um die Bewegungen des Geschwaders zu beobachten. Als sie mit gerötheten Wangen und völlig athemlos anlangten, fanden sie schon die Ludmillers auf dem „Utkiek“.

„Meine Herrschaften!“ rief der Schauspieler im Tone des Herolds. „Sie haben das unverdiente Glück, von dieser Höhe aus einer Entscheidungsschlacht von eben so großer geschichtlicher Bedeutung wie die der Völkerschlacht bei Leipzig beizuwohnen. Dies Glück erfährt noch dadurch eine gewaltige Steigerung, daß Sie das denkwürdige Schauspiel genießen, ohne durch Pulverdampf oder platzende Bomben belästigt zu werden. Sehen Sie, es geht los. Himmel, wie das kracht! So mögen bei Trafalgar Himmel und Erde gebebt haben, als Nelson – –“

Er unterbrach sich plötzlich, brachte sein Opernglas vor die Augen und fuhr, in natürlichen Ton zurückfallend, fort: „Kinder, die Sache ist wirklich großartig! Mit welch’ erschreckender Schnelligkeit sich diese schwarzen ungethüme bewegen, wie tief sie die Fluth durchwühlen und welche Sprache sie reden! Ihr Götter des Olymps, laßt mich als Lear nur einmal solche Donnerworte reden! O, wie wollt’ ich Euch niederschmettern, Ihr Entarteten!“ – Von seinem Feuer hingerissen, wandte sich der Schauspieler Bettina und Lisa zu und rief, in der Rolle des seine undankbaren Töchter verfluchenden Lear, mit höchstem Pathos:

„O, laßt nicht Weiberwaffen, Wassertropfen,
Beflecken meine Manneswange! – Nein,
Ihr Hexren, so will ich an Euch mich rächen,
Daß alle Welt –, will solche Dinge thun –
Was, weiß ich selbst noch nicht, doch schaudern soll
Die Erde drob ...“

Lisa lachte hell auf und unterbrach den phantasievollen Künstler mit den Worten: „Bevor ich Eurer Majestät das Recht zugestehe, mich am frühen Morgen als Hexe zu verwünschen, bitte ich mir die Hälfte Eures Reiches aus.“

„Die führe ich nicht bei mir, wohl aber kann ich mit einem Gläschen Cognac aufwarten; sollte diese Herzstärkung den Damen einen Ersatz für halb Britannien gewähren, so bitte ich zuzugreifen.“ – Er entnahm seiner Rocktasche eine Jagdflasche und ein Gläschen, allein die Mädchen lehnten die Gabe ab. Als Ludmiller sich nach einem anderen Abnehmer umsah, kamen gerade Pischel und Monk über die Höhe.

Die beiden Lotsen hatten Korn gemäht und schritten in Hemdärmeln mit der Sense auf der Schulter, über das Höwt. Als Ludmiller ihnen einen Trunk anbot, traten sie lachend herzu. Die Arbeit hatte ihre gebrannten Wangen geröthet, Monks Augen glänzten und seine Zähne blitzten weiß unter dem dunklen Schnurrbart hervor. Im Glanz und Duft des sonnigen Morgens erschien er Bettina frischer und jugendlicher als am Abend vorher. Ludmiller zog die beiden Männer ins Gespräch, und diese erklärten die Bewegung der den Feind markierenden Fregatte, welche auch Segel eingesetzt hatte und jetzt majestätisch am linken Flügel

des Geschwaders vorüberrauschte. Der Morgenwind blähte die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_072.jpg&oldid=- (Version vom 27.2.2019)