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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

der ganzen Küste und wußte mit Fremden umzugehen. Kurz vor der Landung rieth er dem Sanitätsrath, der sich nach den Miethswohnungen des Ortes erkundigte, im Schulhause vorzusprechen.

Das Fahrzeug schoß durch die Brandung und saß plötzlich mit einem so starken Ruck auf dem Sande, daß der schüchterne junge Mann zwischen die Koffer fiel. Die Bootsleute sprangen mit ihren hohen Wasserstiefeln in die seichte Fluth und trugen die Reisenden über die Spritzwellen zum Ufer hin. Dort verabschiedete sich der Fremde mit einer so gedrückten Miene, daß Ludmiller fragte, wer denn der Arme sei. Man gab ihm zur Antwort: der jüngere Sohn des Pfarrers von Großküstrow. Er sei Theologe und im Staatsexamen dnrchgefallen und könne sich auf einen unliebsamen Empfang seitens des gestrengen Herrn Vaters gefaßt machen.

Die Lotsen führten die Reisenden vom Weststrand, vorüber am Gasthaus und einigen Bauernhöfen, bis zum Fuß des Höwts, wo dicht am Rande des Wäldchens das Schulhaus lag. Dort fanden die Horsts drei passende Stuben im obern Stockwerk, von denen sie Bettina das Balkonzimmer einräumten. Lisa schlief mit ihrer jüngeren Schwester und der Sanitätsrath mit Fredi in einem Raum. Der Lehrer, welcher mit seiner Frau und einem kleinen Kinde im Erdgeschoß hauste, war eifrig bemüht, den Gästen sein Haus behaglich zu machen; er ließ die Koffer herbeischaffen, welche Lisa und Bettina rasch auspackten, und sorgte für ein einfaches Abendbrot, das in der Hollunderlaube des sorgsam bepflanzten und von Obstbäumen beschatteten Gartens verzehrt wurde.

Horst fühlte sich von der Reise erschöpft und ging mit Fredi früh zur Ruhe. Lotte, welche eine glückliche Veranlagung zum Hausmütterchen besaß, half der Lehrersfrau in der Küche. Bettina und Lisa aber verspürten den Drang, noch zum Vorgebirge hinaufzusteigen und einen Blick über das weite mondbeglänzte Meer zu werfen. Hinter dem Schulhaus führte ein Pfad zwischen Aehrenfeldern und hohen Buchen zur Höhe hinauf. Barhaupt schritten die Freundinnen in der Abenddämmerung über den schmalen Rain einem Häuschen entgegen, das die Spitze des breiten sattelförmigen Berges krönte. Es war das Lotsenhaus oder, wie es von den Bewohnern der Halbinsel genannt wurde, der „Utkiek“. Von diesem Punkte aus beobachtete der wachthabende Lotse alle Erscheinungen des Meeres und gab den Kameraden im Dorf Glockenzeichen, sobald ein Schiff in Sicht kam, das durch die Bucht nach der fernen Hafenstadt geführt werden mußte. Als die Freundinnen die Höhe erreichten, saß ein Wachtmann vor der Bank des Häuschens und blickte durchs Fernrohr nach einem der Küste zusteuernden Vollschiff. Sobald er die beiden Mädchen gewahr wurde, lud er sie durch eine Handbewegung ein, auf der Bank Platz zu nehmen, während er selbst sich erhob und zu einer tiefer stehenden Buche schritt; von einem starken Ast des Baumes hing die Signalglocke herab, welche er jetzt in Bewegung setzte.

Die Mädchen, durch den raschen Aufstieg etwas außer Athem gekommen, ließen sich auf der Bank nieder und genossen den Rundblick über Land und Meer. Das Höwt fiel nach Osten hin steil zur See ab; in zwei Gipfeln stieg es empor. Dem „Utkiek“ gegenüber erhob sich gen Süden eine etwas tieferliegende, mit Buschwerk überwachsene zweite Kuppe, an deren Fuß einige angepflockte Schafe und Ziegen weideten. Die Nordseite des Vorgebirges senkte sich flach zur Düne hinab und war von dichtem Buchenwald bedeckt. In einer Ausbuchtung zwischen Wald und Düne lag eine Fischerflotte vor Anker; die Männer hatten am Strand Feuer entzündet, deren Rauchwolkchen langsam zu den Strandfelsen aufschwebten. Ueber Bettina kam das Gefühl des Friedens. Die Abenddämmerung, das leise Rauschen der Brandung, welches sich mit dem der Buchen mischte, der Anblick der rastenden Fischer, die sich in der Bucht geborgen fühlten, das alles wirkte beruhigend auf ihre Nerven und löste ihren Schmerz in Wehmuth auf.

„Sieh doch, Lisa,“ sagte sie und legte den Arm um die Freundin, „wie schön und friedvoll dies einsame Land ist! Hier empfindet man den beglückenden Einfluß der allgütigen Natur. Ich bin gewiß: Menschen, die der Hauch des Meeres so unmittelbar trifft wie hier, die sich täglich an der Schönheit dieses Blickes, an der Größe und Erhabenheit des Meeres erbauen, müssen sich unendlich freier und besser fühlen als wir, die von Mauern umschlossenen Bewohner der großen Städte. Hier möchte ich mein ganzes Leben verbringen, dies ist die ‚von der Vergessenheit Reiher‘ überrauschte Insel.“

Lisa schaute die schwärmerische Freundin überrascht an, dann erwiderte sie mit einer schalkhaften Bewegung des Kopfes. „Ja, liebes Herz, hier könnte ich’s zur Noth auch aushalten, aber nicht allein. Dieses Eden müßte einen Adam haben.“

„Um seiner selbst willen geliebt zu werden, ist ein Glück, das nur wenigen Frauen zufällt,“ antwortete Bettina mit Bitterkeit.

Lisa lachte verschämt. „Nun, so gehöre ich zu den wenigen, denn Garcia Diaz liebt mich wahrlich nicht um meines Vermögens willen.“

„Wie?“ rief Bettina überrascht. „Der Spanier liebt Dich? Jener Cellist, mit dem Du den Fandango im Festspiel getanzt hast?“

„Ja,“ gestand Lisa, „dieser Tanz hat unser Geschick entschieden. Garcia liebt mich heiß und leidenschaftlich, ich aber wage es nicht, mich dem Vater zu entdecken ... Ich muß Dir ein Geständniß machen, Betty – er kommt hierher.“

„Wer? Diaz?“

„Ja. Doch still, da ist der Lotse wieder!“ Lisa brach ab und richtete an den Seemann die Frage, ob es gestattet sei, das Innere des Wächterhäuschens zu sehen. Der freundliche Mann bejahte und führte seine Gäste in die halbdunkle Stube. Er entzündete eine Zinnlampe, bei deren mattem Scheine die Mädchen einen riesigen Kachelofen, einen Tisch, auf dem eine abgegriffene Bibel lag, eine breite Bank und einen Schrank bemerkten. Der letztere war mit seltenen Muscheln, Steinen und allerlei fremdartigen Gegenständen gefüllt. Der Lotse zeigte zuvorkommend diese Schätze und erzählte, daß die Pfeilspitzen, die seltsam gefärbten Thongefäße, Korallenschnüre und geschnitzten Kokosnußschalen Andenken seien, welche er und seine Kameraden aus fernen Zonen mitgebracht hätten; dabei gab er zu jedem Gegenstand eine kurze Erläuterung. Unter den Stiftern der Erinnerungszeichen kehrte der Name Ewald Monk am häufigsten wieder, und als Lisa verwundert ausrief: „Dieser Monk muß ja alle Welttheile gesehen haben!“ erwiderte der Alte lächelnd: „Ja, Monks Ewald ist ein höllisch fixer Kerl. Er ist der jüngste Lotse am Ort, hat aber mehr Fahrten gemacht und mehr erlebt als wir alle.“ –

Schweigend kehrten die Mädchen zurück. Als Bettina sich endlich zur Ruhe legte, war es ihr, als wenn in matten Zwielichtfarben noch einmal alle heiteren Erscheinungen des Tages an ihr vorüberglitten: die schönen Gelände des Haffs, das Boot mit dem fliegenden Segel, das im Purpurlicht der Abendsonne erglühende Fischerdorf und die köstliche Mondnacht. Durch die geöffnete Balkonthüre drang süßer Rosenduft ins Zimmer und umgaukelte ihre Sinne. Entschlummernd sah sie den Vater vor sich, der küßte sie im Traume und sagte leise: „Zu diesem Asyl hab’ ich Dich geführt, Bettina; hier bist Du geborgen!“




6.

Sie waren thatsächlich gut aufgehoben im Schulhaus – die stadtmüden Gäste. Bettina, Lisa und Lotte theilten sich in die Wirthschaftssorgen, und die Herstellung der Mahlzeiten gewährte ihnen die angenehmste Beschäftigung. Die Horsts hatten reiche Vorräthe aus Berlin mitgebracht, und da Flundern und andere Fische im Dorfe in Fülle zu haben waren, so konnten die Mädchen den Fleischer wohl entbehren, der nur zweimal in der Woche mit seiner Ware vom Festlande herüberkam. Lisa kaufte zudem alle jungen Hühner auf, die im Massow zu finden waren, und nahm sie in eigene Pflege. Die bewegliche Schar bereitete ihr manche drollige Verlegenheit. Die Hühner wurden in der Scheune untergebracht, Lisa aber hatte den Freiheitsdrang ihrer Schlachtopfer nicht in Betracht gezogen. Nun kam es vor, daß das Federvieh durch das geöffnete Thor entwischte und sich in die nahegelegenen Felder verstreute. In solchen Fällen wartete Lisa die Schulpause ab und rief die Jungen zur Hilfe auf: „Wer mir ein Hühnchen zurückbringt, erhält fünf Pfennig!“ Auf diese Verheißung hin stoben die Kinder nach allen Seiten auseinander. Wenige Minuten später befanden sich die gackernden Ausreißer sammt und sonders wieder in Gewahrsam.

In Massow bestand keine Badeverwaltung, doch der Gastwirth

des Orts hatte am östlichen und westlichen Theil des Strandes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_070.jpg&oldid=- (Version vom 27.2.2019)