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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Fridas Blicke folgten dem ausgestreckten Finger der Malerin nach der Ecke, der sie bisher den Rücken zugekehrt hatte, aber mit einem Schrei fuhr sie zurück vor dem freundlich grinsenden Totenschädel mit seinen schönen zweiunddreißig Zähnen.

„Pfui! Wie abscheulich! Davor würde ich mich zu Tode fürchten. – Wie Du das nur fortwährend ansehen kannst, Vilma, Du guckst doch von oben gerade darauf hin!“

Linchen lachte ihr tiefes behagliches Lachen.

„Ja sehen Sie, der ist ehrlich. Aller Schwindel von Fleisch und Kleidern abgefallen – wenn da ein Bein nicht recht steht, sieht man’s auf den ersten Blick.“

„Ach liebstes, bestes Fräulein!“ sagte nun Frida mit ihrer süßesten Stimme, „Sie haben mich vorhin so gescholten und ich habe es ruhig angehört – habe ich das nicht? Ich will mich auch bessern und will zeichnen lernen, doch jetzt – bitte, bitte – nicht wahr, jetzt helfen Sie mir mit der Unglücksvase und stellen mir die Tänzerin ein bißchen auf die Beine? Nächsten Sonntag wird der Bazar eröffnet, ich kann mich nicht sehen lassen, wenn ich nichts Ordentliches habe; es wäre eine furchtbare Schande.“

Karoline Wiesner war nur gegen Anmaßung gepanzert, demüthiger Bitte gegenüber fühlte sie sich regelmäßig wehrlos, und es half nichts, daß sie sich hinterher ebenso regelmäßig über diese ihre Dummheit entrüstete. Sie sah das „armselige Ding“, wie sie Frida im stillen nannte, in seiner Herzensangst, sie sah über die Bittstellerin hinweg Vilmas leises Lächeln, sie wußte, wie bitter deren Gegenwart für jene war – und fühlte ein menschliches Rühren.

„Nun denn,“ sagte sie in milderem Ton. „Stellen Sie das Ding dort hin, ich will nachher sehen, was sich thun läßt!“

„O Sie himmlisches, einziges Fräulein!“ jubelte Frida und nahm einen Schwung, der Künstlerin stracks an den Hals zu fliegen. Linchen reckte die Schultern etwas höher und sagte abwehrend:

„Ruhig, ruhig, zu danken brauchen Sie mir erst, wenn’s gethan ist. Sie wissen ja noch gar nicht, wie es ausfällt.“ Es half nichts, Frida strömte unaufhaltsam weiter von Glückseligkeit über und Fräulein Linchen begriff in diesem Augenblick, was ihr sonst stets räthselhaft vorkam, daß dieses abgeschmackte Wesen doch bei vielen Leuten wirklich wohlgelitten war. Eine ähnliche Empfindung mochte auch Vilma bewegen; sie, welche sonst unter den Freundinnen den Ruf hatte, durchaus nicht immer „nett“ zu sein, sagte jetzt vom Podium herunter in gutmüthigem Ton und scherzend:

„Nun, einen Trost waren Sie der armen Frida am Ende auch schuldig, Fräulein Wiesner, Sie sind ein bißchen hart mit ihr umgegangen dafür daß sie doch von uns allen die begabteste im Kunstfache ist. Ich habe mir schon oft ihre verschiedenen kleinen Talente gewünscht, aber vorhin, während Ihrer strengen Strafrede, war ich ordentlich froh, keines davon zu besitzen.“

„Du kannst ganz zufrieden sein,“ erwiderte Frida etwas spitz, „Du besitzest eben ein großes, das wir andern nicht haben –“

„Und das wäre?“ forschte Fräulein Linchen arglos, doch die schwierige Antwort blieb Frida erspart, denn in diesem Augenblick öffnete sich ein Spalt der Thür, und ein schmales Kindergesicht, von dünnen blonden Haaren umgeben, sah aufmerksam herein.

„Darf ich und der Papa kommen, Tante Linchen?“ fragte die kleine Stimme.

„Gewiß, Sigrid!“ Die Malerin öffnete die Thür vollends, und auf der Schwelle erschien jetzt hinter dem schmächtigen Mädchen ein hochgewachsener Mann, dessen hellblaue Augen einfach und freundlich aus den schon etwas eingefallenen Zügen hervorschauten; ein blondgrauer Bart umrahmte das Gesicht. Beim Anblick der beiden Besucherinnen machte er eine Bewegung nach rückwärts, allein Linchen ergriff mit gewohnter Bestimmtheit seine Hand und zog ihn vollends herein. „Stören? Keine Rede davon, Herr Thormann, wir sind ohnedies gerade bei einer Pause. Darf ich Sie meinen jungen Freundinnen vorstellen?“

Die Gelegenheit, Thormann, den interessanten menschenscheuen Norweger, hier leibhaftig vor sich zu haben, war für Frida zu entzückend, um nicht von ihr auf der Stelle zu einem begeisterten Ansturm auf seine Person benutzt zu werden. Sie hatte seine Aquarelle gesehen – göttlich! Diese Fjorde, diese Ufer! Und die kleinen Häuschen daran, welche aussehen, als ob in ihnen nur idyllische Menschen wohnen könnten, und dann vollends das Nordkap bei Mitternachtssonne – einfach grandios! Sie hatte sich noch niemals von Bildern so hingerissen gefühlt!

Er sah ihre lebhaften Bewegungen mit seinen ruhigen Augen an. „Wenn Ihnen jene Gegenden so gefallen, müssen Sie einmal hinreisen,“ sagte er kurz und richtete dann den Blick über ihr kleines Persönchen dem Podium am Fenster zu.

Wieder diese Vilma! Natürlich, man war es gewohnt, daß sie immer die Aufmerksamkeit auf sich zog, ohne scheinbar etwas dazu zu thun. Dort war sie sitzen geblieben, weil sie wußte, wie anmuthig ihre Stellung war, sie hatte nur leise den Kopf geneigt, als Linchen den Maler vorstellte, und nun blickte dieser so angelegentlich hinüber, als ob sonst niemand im Atelier sei. Es war einfach lächerlich!

Mittlerweile bemühte sich Sigrid, hinter das angefangene Bild zu kommen. Sie war groß für ihr Alter, aber eckig von Gliedern und hastig in den Bewegungen, so daß ihr Durchschlüpfen ein gefährliches Wanken verschiedener Staffeleien zur Folge hatte. Die Malerin hielt sie abwehrend auf, worüber die Kleine ärgerlich das Gesicht verzog. Ihre Züge waren plump und breit, dem länglichen Gesichtsschnitt des Vaters unähnlich. Nur das helle Blau der Augen hatte sie von ihm.

„Aber warum darf ich es denn nicht sehen?“ rief sie mit dem Ton eines verzogenen Kindes. „Papa läßt mich immer dabei sein, wenn er malt.“

„Wenn es einmal weiter ist, sollst Du’s zu sehen bekommen,“ beruhigte die Malerin, ihr freundlich über die Haare streichend; aber Sigrid, welche im Durchsetzen ihres Willens offenbar eine bedeutende Uebung besaß, machte mit einem unartigen: „Nein, jetzt!“ neue Anstrengungen zum Vorwärtsdringen. Endlich rief ihr Vater mit einem unsicheren Bestreben, sein Ansehen geltend zu machen: „Ruhig, Sigrid! Belästige Fräulein Wiesner nicht, oder ich muß Dich wegschicken.“ Er wandte sich zu dieser und fuhr fort: „Wir kommen nur, um zu fragen, ob Sie wohl nächsten Sonntag meine Kleine zu Landgerichtsrath Walter mitnehmen wollten. Ihre Vermittlung der Bekanntschaft zwischen den Kindern hat Früchte getragen, man war so freundlich, Sigrid einzuladen, sie freut sich auch sehr auf die Kindergesellschaft, aber sie ist so scheu. Da kam mir der Gedanke, ob Sie vielleicht auch hingehen ...“

„Versteht sich, versteht sich,“ fiel das gute Linchen ein, dessen Herz vor einer Minute noch nicht an eine solche Aufgabe gedacht hatte. „Werden Sie auch hinkommen, Vilma?“ suchte sie nun die hartnäckig Schweigende ins Gespräch zu ziehen.

„Wohl kaum,“ ertonte endlich deren sanfte Stimme. „Meine kleine Schwester, Elsbeths Schulfreundin, ist eingeladen und freut sich ebenfalls schon sehr darauf.“

Thormann beobachtete voll Antheil, wie anmuthig sich ihre Züge beim Sprechen belebten. Gerade begann in ihm die dunkle Vorstellung aufzudämmern, daß es für ihn wohl schicklich sein möge, nach der Kindergesellschaft Sigrid selbst abzuholen und sich Walters vorzustellen; aber ehe er noch wußte, was ihm diesen Gedanken eingegeben hatte, sah er sich von Frida, die niemals nach einer ersten Niederlage den Muth verlor, von neuem aufs Korn genommen.

„Herr Thormann“ – sie blickte ihm kindlich in die Augen, „nicht wahr, Herr Thormann, Sie kommen doch übermorgen in unseren Ueberschwemmtenbazar im Schloßtheater?“

Aufs unangenehmste berührt, fuhr er herum. „Aufrichtig gesprochen – nein, Fräulein. Mir sind alle solche Ansammlungen verhaßt ... ich war seit Jahren niemals ... kann ich Ihnen nicht meinen Beitrag hier ...“

„Gott bewahre!“ wehrte sie mit beiden Händen geziert und kichernd ab. „Nein, diese Entschuldigung wird nicht angenommen, wir müssen Sie selbst haben. Christenpflicht und Barmherzigkeit, denken Sie doch! Und für Ihre paar geopferten Goldstücke sollen Sie Wunder schauen, es wird famos, ganz famos! Von unseren Kostümen will ich gar nichts sagen, aber Vilma –“ setzte sie mit ungeheurem Entschluß um der guten Sache willen bei.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_060.jpg&oldid=- (Version vom 26.2.2019)